Im Reichstag zu Berlin fordert die Opposition Aufklärung zur Besetzung der Kiautschou-Bucht an der Küste von China. Deshalb tritt der Außenamtschef Bernhard von Bülow am 6. Dezember 1897 an das Rednerpult und sagt: „Die Zeiten, wo der Deutsche dem einen seiner Nachbarn die Erde überließ, dem anderen das Meer und sich selbst den Himmel reservierte, wo die reine Doktrin thront – diese Zeiten sind vorüber. Wir betrachten es als eine unserer vornehmsten Aufgaben, gerade in Ostasien die Interessen unserer Schifffahrt, unseres Handels und unserer Industrie zu fördern und zu pflegen.“ Seine Formulierung am Anfang sorgt für Heiterkeit und Bravo-Rufe. Von Bülow setzt dann fort: „Die Entsendung unserer Kreuzerdivision nach der Kiautschou-Bucht und die Besetzung dieser Bucht ist erfolgt einerseits, um für die Ermordung deutscher und katholischer Missionare volle Sühne, andererseits für die Zukunft größere Sicherheit als bisher gegen die Wiederkehr solcher Vorkommnisse zu erlangen.“ Hierzu ergänzt von Bülow: „In beiden Richtungen schweben Unterhandlungen, und bei der Natur diplomatischer Unterhandlungen und Geschäfte nötigt mich dies, meine Worte sehr sorgsam abzuwägen.“ Übergreifend führt er in der Sache aus: „Ich kann aber doch Folgendes sagen: Wir sind gegenüber China erfüllt von wohlwollenden und freundlichen Absichten“, was zu Heiterkeit links im Reichstag führt, und setzt die Erklärung dann mit den Worten fort: „wir wollen China weder brüskieren noch provozieren. Trotz der uns widerfahrenen schweren Unbill ist die Besetzung der Kiautschou-Bucht in schonender Weise ausgeführt worden.“ Dann sagt er: „Wir wünschen die Fortdauer der Freundschaft, welche Deutschland seit langem mit China verbindet, und die bisher nie getrübt wurde. Aber die Voraussetzung für die Fortdauer dieser Freundschaft ist die gegenseitige Achtung der beiderseitigen Rechte.“ Wer sieht das anders? „Aber auch abgesehen von diesem traurigen Vorfall hatten wir gegenüber China eine Reihe anderer Beschwerdepunkte. Wir hoffen, dass es gelingen wird, diese Beschwerden auf dem Wege loyaler Unterhandlung gütlich beizulegen. Wir könnten aber nicht zugeben, dass sich in China die Ansicht festsetze, uns gegenüber sei erlaubt, was man sich anderen gegenüber nicht herausnehmen würde.“ Abgeordnete rufen im Saal: „Sehr richtig!“ und „Bravo!“ und Bülow ergänzt: „Wir müssen verlangen, dass der deutsche Missionar und der deutsche Unternehmer, die deutschen Waren, die deutsche Flagge und das deutsche Schiff in China geradeso geachtet werden, wie diejenigen anderer Mächte.“ Erneut gibt es Bravo-Rufe und der Redner stellt klar: „Wir sind endlich gern bereit, in Ostasien den Interessen anderer Großmächte Rechnung zu tragen, in der sicheren Voraussicht, dass unsere eigenen Interessen gleichfalls die ihnen gebührende Würdigung finden.“ Unterbrochen von einem Bravo! sagt der Außenamtschef: „Mit einem Worte: wir wollen niemand in den Schatten stellen – aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne.“ Wieder kommt ein Bravo! und bestätigt, dass auch dieser Abgeordnete deutsche Außenpolitik so versteht, dass Interessen anderer Mächte geachtet werden müssen, dass aber auch Deutschland seinen Platz an der Sonne beanspruchen soll. Am Ende der Rede stellt Bernhard von Bülow dar, wie er außenpolitisch in Zukunft herangehen will: „In Ostasien wie in Westindien werden wir bestrebt sein, getreu den Überlieferungen der deutschen Politik, ohne unnötige Schärfe, aber auch ohne Schwäche unsere Rechte und unsere Interessen zu wahren.“ Für seine Ausführungen erhält der Außenamtschef „lebhaften Beifall“.20 In den folgenden Jahren wird unsere Handelsflotte ausgebaut, um auf dem Weltmarkt mehr abzusetzen. Zugleich wird eine Marine aufgebaut, um eine Unterbrechung der Handelslinien auf den Weltmeeren durch denkbare Seeblockaden zu erschweren. Bernhard von Bülow, inzwischen zum Reichskanzler avanciert, kann sich denken, „dass diese folgenschwere Verstärkung unserer nationalen Macht in England Unbehagen und Misstrauen hervorrufen“ wird. Er sieht, dass sich die Politik keines Staates auf der Welt so fest in traditionellen Formen bewegt wie die englische, und er ist absolut überzeugt davon, dass England „seine großartigen weltpolitischen Erfolge“ in erster Linie einer Politik verdankte, „die in ihren Endzielen und Grundlinien unabhängig vom Wechsel der Parteiherrschaft gewesen ist“.21 Das Phänomen, das er hier nur beiläufig anspricht, sollten wir durchaus aufmerksam im Blick behalten, denn es berührt die Grundsatzfrage, ob wir es in England mit einer Demokratie zu tun haben oder ganz und gar mit einer mustergültigen Demokratie. Wenn Bernhard von Bülow die Szene richtig beurteilt, handelt es sich hier um eine gekonnt bespielte Bühne.

Wenn man von Geostrategie spricht, muss man nicht vorschnell an das Führen von Kriegen denken. Man kann auch die Heiraten seiner Kinder so organisieren, dass der eigene Einfluss wächst, oder man kann mittels kluger Vertragspolitik den Aufschwung des Landes fördern. So schließt Kaiser Wilhelm II. zum Beispiel mit Sultan Abdülhamid II. 1898 einen Vertrag über den Bau einer Bagdadbahn. Wenn jene Bahnverbindung in ein paar Jahren fertig ist, wird Deutschland einen eindeutig schnelleren Zugang zum Indischen Ozean haben als England. Um diesen strategisch wichtigen Schienenweg langfristig für den Import von Rohstoffen sowie für den Ausbau des Exports nutzen zu können, kann Deutschland nur an einer friedlichen Entwicklung in Europa interessiert sein. Immerhin hat es dann eine durchgehende Verbindung in nahe und ferne Absatzländer einfach auf dem Landwege. Davon kann Großbritannien nur träumen.22