Ob im Osten oder im Westen – Das Ende Deutschlands, vor dem verantwortungsbewusste und mutige Männer Hitler schon 1938 und 1939 gewarnt hatten, rückt in Reichweite. Mag sein, dass die Front im Osten im Moment etwas zur Ruhe gekommen ist, aber das kann nur heißen, dass die Sowjets im viel größeren Raum östlich der besetzten Gebiete rüsten, was das Zeug hält, und sich auf die nächste Offensive zum Hinauswerfen der ungebetenen Gäste mit ihrem kriminellen Gebaren vorbereiten. Der rote Diktator hat zwar eigene Vorstellungen davon, wen er in Ruhe lässt und wen nicht, er hat aber wenigstens nichts gegen Russen an sich. Vor allem in den westlichen Gebieten Deutschlands zerstören britische und amerikanische Flieger ein Wohnhaus nach dem nächsten unter großem Getöse und begraben auf die Art Frauen, Kinder und alte Leute. Wurden die Terrorangriffe mit Bombern und Maschinengewehrbeschuss anfangs noch als moral bombing scheinheilig schöngeredet, als würde mit dieser Vorgehensweise die Kampfmoral in Hitlers Diktatur zu brechen sein, so wurde jene fadenscheinige Begründung durch die Ankündigung der geplanten Niederringung des Reichs bis zur bedingungslosen Kapitulation endgültig entlarvt, denn mit einem so gearteten Damoklesschwert über den Köpfen der hohen Offiziere ist klar, dass namentlich sie auf Biegen und Brechen weiterkämpfen müssen. Mit der Zeit ist dies und das davon angekommen, was die Nazihorden und wohl auch Wehrmachteinheiten in den Dörfern hinter den Fronten angerichtet haben, und niemand will sich vorstellen, was die Russen mit den Deutschen veranstalten werden, wenn sie ihrer habhaft werden sollten. Allein deswegen sind die höheren Ränge schon gezwungen, eine totale Niederlage zu verhindern.

Das unschuldigste Lamm dieses Krieges, der Londoner Premierminister Winston Churchill, hat nach der Konferenz mit Roosevelt noch versucht, die Formel von der bedingungslosen Kapitulation vor dem Unterhaus in London zurechtzuinterpretieren: Die Formulierung bedeute nicht, dass das deutsche Volk vernichtet oder versklavt werden solle. Vielmehr sage sie aus, dass kein Vertrag und keine Verpflichtung die gegen die Achsenmächte alliierten Staaten im Moment der Kapitulation binden sollen. Sie berechtige nicht zu barbarischen Handlungen oder Deutschland aus der europäischen Völkerfamilie zu tilgen. Das ist sehr überzeugend, wenn es der Politiker sagt, der bereits seit Jahren verheerende Terrorangriffe auf die Insassen der Diktatur im Reich anordnet und mit allen Mitteln dafür sorgt, dass möglichst viele Deutsche ermordet werden – wenn nötig mit Phosphorregen, der in den Haaren und auf der Kleidung der ums Leben rennenden Menschen klebt und sie bei lebendigem Leibe abfackelt.157 Da können Sie noch so kritisch gegen Adolf Hitler und das braune Regime sein, wenn Sie erst einmal brennen, dann brennen Sie. Es ist, wie schon im Weltkrieg davor, gar nicht notwendig, dass sich der Premierminister persönlich darum kümmert, dass zugleich auch möglichst vielen Russen der Garaus gemacht wird; darum kümmert sich ja schon der Führer. Der Londoner Premier braucht Stalin bloß seine zweite Front zu verweigern. Perspektivisch ist da sicher noch mehr drin. Im Moment ist es vielleicht undenkbar, unthinkable, dass Churchill nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches die Sowjetunion angreifen will, aber wenn das Reich plattgemacht ist und Russland wieder in die alten Fürstentümer zerlegt würde, hätte der Londoner Außenminister vor dem I. Weltkrieg Edward Grey genial angefangen und Churchill würde damit unsterblich.158

Im März 1943 erklärt Außenminister Eden vor dem Londoner Oberhaus, Ziel des Krieges sei gewiss nicht die Vernichtung des deutschen Volkes, sondern vielmehr die Zerstörung des Hitlerstaates, den es freilich ohne die vielfältige Unterstützung aus America and England niemals gegeben hätte.159 Demokratie ist eine zauberhafte Einrichtung, wenn man sie wie eine Shakespeare-Bühne zu bespielen weiß. Chamberlain war der Böse, der immer vorgab, Hitler mit seiner Unterstützung zu besänftigen, was er als Appeasement verkaufte, und Eden war der Gute, weil er bei seinen Besuchen gemeinsam mit Chamberlain in Hitlers Protzbauten grimmig dreingeblickt hat. Der Beste aber ist und bleibt natürlich Churchill, weil er immer auf Vorrat gehalten wurde und erst nach dem Ausbruch dieses Gemetzels wieder auf den Brettern erschien, die die Welt bedeuten. Der aktuelle Premier hatte sich zwischendurch als Privatmann verkauft, von dem hin und wieder ein Artikel in der Zeitung erschien. Doch er war am Beginn des Weltkrieges von 1914 der Erste Lord der Admiralität und er leitete schon jene Runde im Kampf gegen Kontinentaleuropa. Bleibt nur zu fragen, wer das nach drei Jahrzehnten noch weiß.

Vorstellbarer Kritik, weshalb denn wohl Deutschlands Zivilbevölkerung bombardiert wird und nicht die Gebäude, in denen die Naziführung ein- und ausgeht, begegnet man mit den gleichen Mitteln wie auch Goebbels. Noël Pierce Coward soll beispielsweise ein flottes Liedchen trällern, um jede Kritik an den Terrorangriffen ins Lächerliche zu ziehen. Man muss den Leuten doch nicht auf die Nase binden, dass er in den Diensten des Geheimdienstes Seiner Majestät des Königs steht.160

Don’t let’s be beastly to the Germans
when our victory is ultimately won.
It was just those nasty Nazis
who persuaded them to fight,
and their Beethoven and Bach
are really far worse than their bite.
Let’s be meek to them
and turn the other cheek to them
and try to bring out their latent sense of fun.
Let’s give them full air parity
and treat the rats with charity,
but don’t let’s be beastly to the Hun.

We must be kind
and with an open mind.
We must endeavour to find a way
to let the Germans know
that when the war is over,
they are not the ones who’ll have to pay.
We must be sweet
and tactful and discreet.
And when they’ve suffered defeat
we mustn’t let them feel upset
or ever get the feeling
that we’re cross with them
or hate them.
Our future policy must be to reinstate them.

Don’t let’s be beastly to the Germans
when we’ve definitely got them on the run.
Let us treat them very kindly
as we would a valued friend.
We might send them out some Bishops
as a form of lease and lend.
Let’s be sweet to them
and day by day repeat to them
that ’sterilization’ simply isn’t done.
Let’s help the dirty swine again
to occupy the Rhine again,
but don’t let’s be beastly to the Hun.

We must be just
and win their love and trust.
And in additon we must be wise
and ask the conquered lands
to join our hands to aid them.
That would be a wonderful surprise.
For many years
they’ve been in floods of tears
because the poor little dears
have been so wronged and only longed
to cheat the world,
deplete the world
and beat the world to blazes.
This is the moment when we ought to sing their praises.
Don’t let’s be beastly to the Germans
for you can’t deprive a ganster of his gun.
Though they’ve been a little naughty to the Czechs and Poles and Dutch,
I don’t suppose those countries really minded very much.
Let’s be free with them and share the B.B.C. with them.
We mustn’t prevent them basking in the sun.
Let’s soften their defeat again
and build their bloody fleet again,
but don’t let’s be beastly to the Hun.

Don’t let’s be beastly to the Germans
when the age of peace and plenty has begun.
We must send them steel and oil and coal and everything they need
for their peaceable intentions can be always guaranteed.
Let’s employ with them a sort of ’strength through joy’ with them,
They’re better than us at honest manly fun.
Let’s let them feel they’re swell again and bomb us all to hell again,
but don’t let’s be beastly to the Hun.161

Wenn man um die Hintergründe weiß, kann einem übel werden.

Lasst uns nicht fies zu den Deutschen sein,
wenn wir den Sieg endgültig errungen haben.
Es waren bloß diese miesen Nazis,
die sie zu kämpfen überredet haben,
und ihr Beethoven und Bach sind in Wirklichkeit
viel schlimmer als ihre Schlagkraft.
(Bravo! Beethoven & Bach mit Hitler in einen Topf geworfen.)
Seien wir sanft zu ihnen
und halten ihnen die andere Wange hin.
Betonen wir ihren verborgenen Sinn für Spaß.
Geben wir ihnen gleiche Rechte in der Luft
und behandeln die Ratten mit Nächstenliebe,
aber lasst uns nicht fies zum Hunnen sein.
Wir müssen nett sein und aufgeschlossen.
Wir müssen uns bemühen einen Weg zu finden,
die Deutschen wissen zu lassen:
Wenn der Krieg vorbei ist,
werden sie nicht dafür bezahlen müssen.
Wir müssen lieb sein und taktvoll und besonnen
und wenn sie die Niederlage erlitten haben,
dürfen wir nicht zulassen, dass sie sich ärgern
oder jemals das Gefühl bekommen,
dass wir mit ihnen böse sind oder sie hassen.
Unsere zukünftige Politik muss darin bestehen,
sie wieder in den Sattel zu setzen.

Lasst uns nicht fies zu den Deutschen sein.
Wenn wir sie endgültig in die Flucht geschlagen haben,
sollten wir sie sehr freundlich behandeln
wie einen geschätzten Freund.
Wir könnten ihnen einige Bischöfe
leihweise zur Verfügung stellen.
Seien wir nett zu ihnen
und sagen wir ihnen Tag für Tag,
dass man einfach niemanden sterilisieren darf.
Lasst uns den Dreckschweinen erneut helfen,
den Rhein wiederzubesetzen,
aber lasst uns nicht fies zum Hunnen sein.

Wir müssen gerecht sein
und ihre Liebe und ihr Vertrauen gewinnen.
Und obendrein müssen wir vernünftig sein
und die eroberten Länder darum bitten,
uns zu helfen, den Deutschen zu helfen.
Das wäre eine wunderbare Überraschung.

Viele Jahre lang
haben sie Sturzbäche von Tränen vergossen,
weil den armen kleinen Hänschen
so viel Unrecht zugefügt wurde,
und sie haben sich nur danach gesehnt,
die Welt zu betrügen,
die Welt auszunehmen
und kaputtzuschlagen.
Dies ist der Moment,
in dem wir sie loben sollten.

Lasst uns nicht fies zu den Deutschen sein.
Du kannst einem Gangster seine Waffe nicht wegnehmen,
auch wenn er zu den Tschechen und Polen und Holländern
ein bisschen ungezogen war.
Ich denke nicht, dass diese Länder etwas dagegen hatten.
Seien wir unvoreingenommen und teilen wir die B.B.C. mit ihnen.
Wir dürfen nicht verhindern, dass sie sich in der Sonne aalen.
Mildern wir ihre Niederlage wieder einmal ab
und lassen Sie ihre verdammte Flotte wieder aufbauen.
Aber lassen Sie uns nicht fies zum Hunnen sein.

Lasst uns nicht fies zu den Deutschen sein,
wenn die Zeit des Friedens und des Überflusses begonnen hat.
Wir müssen ihnen Stahl und Öl und Kohle schicken
und alles, was sie brauchen,
weil sie garantiert nur friedliche Absichten haben.
Lassen Sie uns mit ihnen eine Art „Kraft durch Freude“ spielen;
sie sind besser als wir, wenn es um richtig männlichen Spaß geht.
Gönnen wir ihnen das Gefühl,
dass sie sich wieder aufblasen
und uns alle zur Hölle bombardieren können,
aber lassen Sie uns zum Hunnen nicht fies sein.

Es spricht Bände, dass die Deutschen wiederum undifferenziert mit „der Hunne“ in der Einzahl angesprochen werden. Ja, Londoner Propaganda. In welch üblem Dilemma stecken seit Januar Hitlers Kritiker in höheren Rängen Deutschlands? Wann wurden sich die einzelnen Akteure absolut einig, dass es London darauf ankommen lassen will? Wahrscheinlich ist diese Einschätzung erst mit der Forderung nach einer bedingungslosen Kapitulation der Achsenmächte mehrheitsfähig geworden. Mag ja sein, dass die Hoffnung zuletzt stirbt; mag auch sein, dass mancher bis zum Januar noch gemeint hat, man könnte über geheime Verhandlungen im Hintergrund doch günstigere Friedensbedingungen heraushandeln. Das ändert aber alles nichts daran, dass sich Deutsche, denen das Vaterland lieb und teuer ist, und die keinen Bock darauf haben, wieder vor Hunger elend zu verrecken, nach Casablanca was einfallen lassen müssen. Allein das Wort von einer Kapitulation ohne eigene Bedingungen klärt bereits, dass ein „Frieden“ noch krasser ausfallen muss als der von 1919. Es wird mit der Zeit immer mehr Leuten bekannt, dass überall in Europa, doch besonders in Osteuropa, bösartige Verbrechen im Namen Deutschlands begangen werden. Das würde viel härtere Sanktionen diesmal überdies noch rechtfertigen. In vielen kleinen Runden sitzen Männer und Frauen wie zum Beispiel im Kreisauer Kreis* zusammen und entwickeln die verschiedensten Denkmodelle, mit deren Hilfe man nach dem Zusammenbruch des Reichs retten kann, was noch zu retten sein wird. Da ist guter Rat teuer, denn es muss ein Ausweg gefunden werden, damit der Kelch an ihnen vorübergeht. Eines ist auf jeden Fall absolut sicher: Frieden im juristischen Sinne kann das Ziel der Übung nicht sein. Ein Versailles 2.0 hieße, dass wir nie wieder so leben können wie früher. Es geht um einen Schwebezustand, der eine Einigung der Alliierten über weitere hunderte von Milliarden an Reparationen für das Reich effektiv verhindern kann. Man darf nicht vergessen, dass die utopischen Summen nach Versailles bislang erst ansatzweise abgezahlt wurden.

Ob eine zündende Idee Deutschland oder vielleicht zumindest die Hälfte davon zurückführen kann aus einer großflächigen Trümmerwüste in die Elite der Wirtschaftsnationen in der Welt, wird sich dann schon zeigen. Hitler würde das nicht mehr kratzen. Dieser Mensch kennt bloß die zwei Kategorien Sieg und Tod – wie in der Urgeschichte des Menschen. Eine Lösung kann bloß darin bestehen, dass ein Keil zwischen die westlichen Alliierten und die Sowjets getrieben wird, um sie an einer Einigung über den Friedensvertrag zu hindern. Alle Truppen sollten nach Deutschland vorstoßen können und anschließend müsste verhindert werden, dass es zur Bildung einer gesamtdeutschen Regierung kommt. Ein zweiter Staat im Reich wäre genug, um eine legitimierte gesamtdeutsche Regierung zu verhindern, die unterschreiben könnte. Der richtige Tritt ans Schienbein wäre es, die Hauptstadt eines Staates in West-Deutschland an dem Orte zu installieren, wo sich der noble Obergangster Chamberlain mehrmals mit dem Führer getroffen hat: In Godesberg bei Bonn. Genau da würden die Diplomaten aus England jeden Tag daran erinnert, welche Rolle sie persönlich in diesem Drama spielten. Moskau ist jedoch im Moment mit Amerika verbündet, da es ohne dessen militärische Unterstützung längst gegen die Wehrmacht verloren hätte. Das fängt schon beim Dynamit an, dessen größten Teil man aus Amerika beziehen muss, – und dort regiert, seit Franklin Delano Roosevelt am Ruder ist, aus unerfindlichem Grund der rosarote Blick auf das Reich Stalins. Die Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion haben sich seit Roosevelts Antritt 1933 mehr als normalisiert; sie sind geradezu freundlich geworden. Moskaus Staatschef Jossif W. Stalin firmiert in großen Medien der USA liebenswürdig unter Uncle Joe.162 Botschafter William Christian Bullitt, der dem Massenmörder im Kreml kritisch gegenübertreten wollte, war durch einen Mister Joseph Edward Davies ersetzt worden, der im Fahrwasser des US-Präsidenten segelte. Etwas gespenstisch ist diese Haltung der US-Administration gegenüber Uncle Joe’s Union schon.

Hier lohnt es sich wieder einmal, einen Originaltext anzusehen, um eine Vorstellung zu bekommen, was in dieser Angelegenheit der aktuelle US-Vizepräsident anbietet. In einer Würdigung der phänomenalen Entwicklung Sibiriens schwärmt Mister Wallace: „Dies Land, das ein Achtel der Erdoberfläche umfasst, vermochte unter der Zarenherrschaft mit knapper Not kaum so viel Einwohner zu ernähren wie Pennsylvania, das nur einen hundertsten Teil seiner Größe hat. Nicht mehr als fünfundzwanzig Jahre sind seitdem vergangen, und über vierzig Millionen Menschen leben heute dort, wo im zaristischen Russland in den erbärmlichsten Verhältnissen lediglich sieben Millionen – zum größten Teil Sträflinge – vegetierten. Vor dem heutigen Sowjet-Asien müssen die Verleumder Russlands verstummen.“163 Das Zitat stammt allen Ernstes von Henry Agard Wallace, dem Vizepräsidenten hinter dem sowjetfreundlichen amerikanischen Präsidenten. Kein Wort der Kritik an dem System der „Gulags“, den bedeutend erweiterten Strafgefangenenlagern, in denen wesentlich mehr Häftlinge hausen als zu seligen Zarenzeiten und in denen auch viel mehr Menschen jämmerlich zugrunde gehen. Über die Perspektiven der Entwicklung der Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion schreibt er in einem Buch für Amerikaner, die Zusammenarbeit der zwei Nationen möge über den Krieg hinaus in der Nachkriegs- und Friedenszeit fortdauern.164

Mancher in America reibt sich schon ein Jahrzehnt lang die Augen, weil es nicht zu glauben ist, was die herrschende Administration zu Russland sagt, und noch mehr, was sie zu den Zuständen dort nicht sagt. Und das war schon von 1933 bis 1939 so. Lesen wir ruhig noch ein Stück mehr. Das geht im ganzen Buch so weiter: „Es ist kein Zufall, dass Amerikaner und Russen einander mögen, wenn sie sich kennen lernen. Beide Völker wurden geformt vom riesigen Schwung eines reichen Kontinentes. Beide Völker wissen, dass ihre Zukunft großartiger ist als ihre Vergangenheit. Beide hassen die Heuchelei. Als die Russen die Fesseln des zaristischen Absolutismus abgeschüttelt hatten, wandten sie sich instinktiv den Vereinigten Staaten zu, um wirtschaftliche und landwirtschaftliche Hilfe zu erhalten.“ Was für ein schwülstiger Kitsch. Als am 1. Mai im Jahre 1918 eine „Amerikanische Liga zur Hilfe und Zusammenarbeit mit Russland“, die American League to Aid and Cooperate with Russia, von Vertretern großer Firmen und Banken gegründet wurde, lebten die Bolschewiki im revolutionierten Zarenreich im ganz festen Glauben, dass sie anzutreten hätten gegen die Klassenfeinde in aller Welt, die ihnen ihre Sandburgen wieder einreißen wollten.165 Wären nicht Unterhändler aus den USA gekommen und hätten Hilfe angeboten, hätte man sich instinktiv bemüht, das kriegsgebeutelte Land allein aufzubauen. Davon abgesehen weiß der gute Mann nicht oder sagt nicht, dass unter den Interventionstruppen in den Jahren nach der russischen Revolution vom Oktober 1917 auch US-Truppen waren, wenn auch nur wenige tausend Soldaten.

Was ist also die Lösung des Problems? Was zeitnah herbeizuführen sein wird, ist eine Art kalter Krieg, wenn der aktuelle Krieg erst einmal vorbei ist. Man müsste den beiden Westmächten einreden, dass die Sowjets die Absicht hätten, nach der geschlagenen Schlacht gegen Hitler dann ihren Bolschewismus in anderen Ländern ebenso durchzuboxen, und, dass es in den Weiten des eurasischen Sowjetreiches militärische Möglichkeiten gebe, die es in die Lage versetzen, die Welt zu bedrohen. Das muss ja gar nicht alles auf der Stelle passieren. Hauptsache, man hat gute Pläne von wichtigen Städten und Regionen in der Sowjetunion, mit denen man die Amis später hinters Licht führen kann. Hier kommt den Deutschen auf jeden Fall zupass, dass es die Amerikaner aufgrund ihrer Geschichte für unschicklich hielten, einen Geheimdienst zu unterhalten, war dies doch unter der Würde für eine freiheitliche Gesellschaft. Was sie während des Krieges als OSS aus dem Boden gestampft haben, dient ja nur zur Unterstützung der aktuellen Kampfhandlungen gegen die Wehrmacht. Damit haben diese Amerikaner allerdings noch lange keine geheimdienstlichen Kenntnisse über das mächtig-gewaltige Reich der Sowjets. Hier könnten die deutschen Agenten von der Ostfront genüsslich Nachhilfe geben.166

Wer entwickelt den rettenden Einfall? Heusinger? Gehlen? Wenn dieser coup gelingt, wird das keine Rolle mehr spielen, und gelingt er nicht, ist ohnehin alles andere gleichgültig. Mag sein, dass jener Beschluss gefasst wurde, als sich der Freundeskreis von Moltkes am 22. Februar das dritte Mal auf seinem Gut in Kreisau getroffen hatte. Aber selbst zwei Wochen früher oder später spielen keine Rolle. Mag auch sein, dass dies nicht die Lösung für das ganze Reich sein kann – für die östliche Hälfte von Tilsit bis herein an den Harz wird das bitter. Man wird abwarten müssen, bis die Truppen der Briten, der Amerikaner und der Sowjets alles besetzen, und dann müssen die westlichen und die östlichen Alliierten gegeneinander ausgespielt werden. Sie werden dort bleiben müssen, wo sie sind, und dann sind viel diplomatisches Geschick sowie solide Kenntnisse im juristischen Bereich erforderlich. Wehe dem, der unter den Umständen dann auf demokratischem Wege in ein hohes Amt in Deutschland reinBrandtet und keine Ahnung von der Krümelkackerei der Juristen hat.

Die Hauptlast der Vorbereitung solch eines kalten Krieges zwischen den Yankees und Uncle Joe’s Empire liegt zuallererst auf den Schultern der engsten Kollegen in der Leitung des Abwehrdienstes Fremde Heere Ost, der von Generalmajor Reinhard Gehlen geführt wird. Er hat das Drama miterlebt: „Jahrelang waren wir gezwungen, mit den Augen des Gegners zu sehen und uns in seine Denkweise und Absichten einzuleben. Schon frühzeitig konnten wir seine wachsende Siegeszuversicht feststellen und mussten sie als berechtigt anerkennen. Damit ahnten wir aber auch unausweichlich das Herannahen der Katastrophe voraus. Es ist verständlich, dass sich dabei auch Überlegungen aufdrängten, was getan werden müsse, wenn der Zusammenbruch einmal eingetreten sei.“ Er räumt ein, dass sich sein Umfeld nicht freiwillig damit abfindet, dass endgültig das Ende Deutschlands gekommen sei. Diese Haltung drängt ihm Gedanken darüber auf, welche Verpflichtungen sich für ihn ergeben werden für die Zukunft nach dem Kriege. Er weiß am besten, dass solche Überlegungen nicht auf einmal entstehen – sie reifen in einem Denkprozess. An jenem Grübeln ist neben ihm ebenso Major Gerhard Wessel beteiligt. Darüber hinaus hat auch Fremde Heere West seinen Part zu leisten: Ludwig Beck und Carl Friedrich Goerdeler entwickeln die Idee, über den Waffenstillstand an der Westfront mit den Briten und Amerikanern zu verhandeln und dafür die Landung alliierter Truppen im Westen zu ermöglichen.167

Die Männer in der Leitung der Abwehr können sich vorbehaltlos aufeinander verlassen und der innere Zusammenhalt der Abteilung hält allen Krisen stand. Selbst der Nationalsozialistische Führungsoffizier tanzt in ihrer Abteilung nicht aus der Reihe. Reinhard Gehlen weiß selbstredend, dass das nicht überall so ist. Extreme Haltungen, sowohl in Form eines ausgeprägten Nationalsozialismus wie auch eines ganz hemmungslosen Fatalismus in der inneren Einstellung mancher jüngerer Offiziere außerhalb seiner Abteilung, zeigen doch zuweilen, dass die Dauer des Krieges und die Indoktrination der letzten zehn Jahre sich auswirken. Durch die Umstände rund um Gehlen werden ihre Überlegungen auch nach außen abgeschirmt, was bei einer Verschwörung natürlich unabdingbar ist. Es darf sicher davon ausgegangen werden, dass Reinhard Gehlen und seine Mitarbeiter jetzt bereits damit anfangen, ihre Feindlageberichte über die Rote Armee einmal für den täglichen Gebrauch zu schreiben und einmal ihre Unterlagen parallel dazu so zu überarbeiten, dass sie später ebenso zur Irreführung der Amerikaner genutzt werden können. Immerhin sind sie noch in großen Teilen der Sowjetunion unterwegs und haben bislang noch Chancen, um sich in den Städten und Dörfern des Riesenlandes zu bewegen und sich dort umzusehen, um Aufzeichnungen zu machen und getürkte Karten anzufertigen. Wer weiß denn, ob sie im Jahre 1944 nicht längst aus dem Tempel vertrieben sind? Dann ist es dafür zu spät. Es ist nur eines sicher: Was in insgesamt fünfzig Kisten für die Zeit nach dem Krieg landet, sind Fälschungen.168

In Anbetracht der irren Verwüstungen, die auch US-Bomber im Westen Deutschlands anrichten, wird sich das schlechte Gewissen der Agenten wohl in Grenzen halten. In Bezug auf Hitler und seine crew dürften die Männer ihre Arbeit an sorgfältigen Lageberichten samt und sonders einschätzen wie Heinz Felfe*, einem weiteren dieser Geheimdienstmänner, der sagt: „Deprimiert stellten wir fest, dass wir mit diesen Lageberichten und Einzelmeldungen – soweit es Referenten erkennen konnten – verhältnismäßig wenig erreichten. Alarmierende Informationen glaubte die Führung – Himmler, Ribbentrop, Hitler – nicht oder kaum oder nahm sie nicht ernst. Sie glaubte fast immer nur das, was in ihr vorgefertigtes Bild passte, und dem widersprechende Informationen tat sie als falsch, gar als feindliche Irreführung oder Ähnliches ab.“ Menschlich hat er da völlig Recht; letztlich hat doch keiner der Agenten den Ehrgeiz, falsche oder unvollkommene Lageinformationen weiterzugeben. Jeder bemüht sich darum, objektiv zu berichten, aber niemand von ihnen kann diese „immer schneller werdende Fahrt ins Verderben abbremsen“.169 Gehlen und die anderen Köpfe aus der Schar der deutschen Agenten im Ausland brauchen jedenfalls nicht zu lange, um zu begreifen, „was getan werden müsse, wenn der Zusammenbruch einmal eingetreten“ ist.170

Mein Gott, wie unmoralisch, werden manche im Publikum jetzt denken. Die Verlierer des Kriegs können doch nach dem Zusammenbruch keinen kalten Krieg zwischen den Alliierten organisieren! Aber wenn wir schon bei moralischen Bedenken angekommen sind, können wir uns auch einmal in jene hohen Bediensteten des Deutschen Reiches hineinversetzen, die zeitlebens dafür gearbeitet haben, ihren Staat nach der Katastrophe des Weltkrieges von 1914 bis 1918 und den zugegebenermaßen unerträglichen Friedensbedingungen von 1919 aus dem Chaos zu retten und ihn wieder zu alter Blüte zu führen. Manch einem von ihnen schien Kanzler Adolf Hitler in den Jahren seit 1933 Ruhe in die bürgerkriegsähnlichen Zustände der frühen dreißiger Jahre zu bringen. Aber wer hat den Herrn Volkskanzler denn ernst genommen? Als Übergang war der gedacht und nicht als das Patentrezept für das Reich. Nach der sogenannten Fritsch-Krise fünf Jahre später ging manchem von ihnen ein Licht auf. Nach der Sudetenkrise und der Nacht der Ausschreitungen gegen Juden und ihre Gotteshäuser waren sie endgültig munter. Wie viele fähige Leute waren seit 1933 schon aus dem Reich geflüchtet? Banker, Wissenschaftler und Künstler. Nein, die Nazis hatten nicht das Gefühl, dass sie im stumpfen Rassismus wertvolles Potenzial hatten ziehen lassen, das dem Reich einmal fehlen wird. Die begehrten Nobelpreise sind schon lange der Schnee von gestern. Während des Sommers 1939 war offenbar manch einem in den alten Eliten klar geworden, dass es dem selbsternannten Führer auf dem Obersalzberg nicht nur um den Wiederaufbau der Großmacht ging, sondern um Krieg um jeden Preis. Die Briten haben ihm Österreich und die Sudeten ausgeliefert. Alte deutsche Gebiete in Polen waren ihm versprochen – was wollte er denn noch? Dieser wirre Kopf wollte den Krieg haben und dann sollte unter seinem Namen ein antikes Großreich in die Weltgeschichte eingehen – in der modernen Zeit. Wie viele Emissäre hat das Auswärtige Amt seit dem Jahr 1938 nach London hinübergeschickt, nach Paris und über den Atlantik hinweg, um Adolf Hitlers Überfälle auf andre Länder zu vereiteln, und wie oft sind sie mit fadenscheinigen und haarsträubenden Begründungen an der Themse abgewiesen worden? So war es schon im Frühjahr 1938, dann wieder im Herbst, so war es 1939, und jeder Versuch, London und Washington seit 1940 davon abzuhalten Hitler und seine Spießgesellen als die legitime Vertretung des deutschen Volkes anzusehen, ist immer wieder fehlgeschlagen. So ein kalter Krieg ist keine schlechte Lösung, doch wird es soweit kommen? Woher sollen die Deutschen denn wissen, dass die Briten planen, nach dem Sieg über Deutschland die Sowjetunion ebenso anzugreifen und auf diese Art zwei Reiche mit einem Abwasch auszuradieren? Wenn es den Deutschen gelänge, ihren Plan umzusetzen, dann würde ihnen zuerst Churchills Plan für eine Operation Unthinkable zum Opfer fallen, und dabei war bislang für die Briten alles so gut gelaufen. Nach 1914, in den 1920er Jahren, in den 1930er Jahren und jetzt seit 1941. In Deutschland steht in absehbar kurzer Zeit kein Stein mehr auf dem anderen und was bei den Russen im Moment noch nicht im Eimer ist, soll nach der Kapitulation des Reiches endgültig klipperklar geschossen werden.171

In der Bevölkerung des Reiches wird man noch nicht einmal auf unüberwindliche Widerstände für den Teilungsplan stoßen. Im Süden und im Westen gibt es ohnehin vielfach die Hoffnung, nach der Katastrophe sei eine Aufteilung in eine anglo-amerikanische Sphäre und eine russische Region zu erwarten, die die eigene Landschaft vor den Sowjets bewahrt, und in der Arbeiterschaft herrscht die Überzeugung, es würde Arbeitern im Bolschewismus „nicht wesentlich schlechter gehen als jetzt“.172 Doch auch im Osten gibt es nicht bloß Arbeiter, die vom Leben unter bolschewistischen Vorzeichen träumen. Werden sie sich dagegen wehren? Ideen für eine Abspaltung hatten freilich bereits vor dem Kriege viele Gruppen des Widerstandes gegen das Hitler-Regime, wie zum Beispiel Mitglieder des „Reichs- und Heimatbundes deutscher Katholiken“ und der „Reichs-Arbeitsgemeinschaft deutscher Föderalisten“, die die Autonomie für das Rheinland und andere Teile des Deutschen Reiches in einem neuorganisierten Bundesstaat anstrebten. Die beiden Organisationen wurden von Benedikt Schmittmann geführt, der wegen dieser Verschwörung im KZ Sachsenhausen starb, oder klarer gesagt, totgetreten wurde. Mit solchen Vorstellungen ist durch die enge Freundschaft mit Schmittmann neben anderen auch der frühere Oberbürgermeister der ehemals schönen Stadt Köln, Dr. Konrad Adenauer*, vertraut. Damit Männer wie er nicht neue Sachen aushecken und sich mit anderen vernetzen, hat er sich alle paar Tage bei der Polizei zu melden.173 Seine Gegnerschaft zum herrschenden Regime ist den Nazis schon vor zehn Jahren aufgefallen, als sie forsch in die zu großen Schuhe der Herrschenden hineingeschlüpft waren.

Weil doppelt einfach besser hält, führt der Kopf des zivilen Widerstands Carl Friedrich Goerdeler eine zweite Komponente in den schlauen Plan ein. Im Jahr 1938 und somit noch vor dem Krieg schrieb er selbst, wenn es zu einem Krieg komme, wären die deutschen Gebiete östlich der Oder weg. In einer Denkschrift fixiert er am 26. März 1943 neue Forderungen für die Zeit nach dem Krieg. Auf einmal hält er neben der Erhaltung von Österreich und dem Sudetenland beim Reich sogar den Zugewinn eines Gebietes wie Südtirol für möglich, das sicher einst zum Habsburgerreich gehört hat, aber nie zu Deutschland, und auf das obendrein gar jemand wie Kanzler Adolf Hitler feierlich verzichtet hatte. Das lässt auf alle Fälle aufhorchen, hatten doch Abgesandte des Auswärtigen Amtes sowie des Generalstabes der Deutschen Wehrmacht schon im Oktober 1939 nach den Kriegserklärungen Englands und Frankreichs nur noch die Garantie der Versailler Grenzen im Osten und im Westen erhofft.174 Was soll das?

Wenn Goerdeler in dieser gar nicht mehr rosigen Lage anfängt, utopisch anmutende Gebietsforderungen in den Raum zu stellen, darf man davon ausgehen, dass sie in einer Patt-Situation zwischen den Russen und den Westmächten eine Einigung zwischen ihnen und Deutschland über eine Regelung der deutschen Frage und die damit verbundenen neuerlichen Reparationsforderungen so lange wie bloß denkbar unmöglich machen. Alternative Deutungen zu der vorliegenden sind immer willkommen, da die Beschreibung von Vorgängen in fremden Köpfen letzten Endes einer Spekulation gleichkommt. Oder würden Sie jedes Wort Ihnen vertrauter Menschen oder ganz und gar von Unbekannten einfach für bare Münze nehmen? Eine Möglichkeit besteht zum Beispiel darin, dass ein schlauer Kopf wie Carl Friedrich Goerdeler im Prinzip sturzdumm ist, vergesslich beziehungsweise von deutscher Großmannssucht mehr erfüllt ist als der Führer in Berlin persönlich. Abgesehen von Goerdelers eigener früherer Darlegung kann man den kreativen Ausbau der Gebietsforderungen im Jahr 1943 – nach der Konferenz von Casablanca und dem militärischen Fiasko der Wehrmacht in Stalingrad – gewiss auch in Beziehung setzen mit frühen Orakeln aus Zeiten, als noch lange kein Krieg am Horizont zu sehen war. So hatte der Vater von Franz J. Strauß nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler in Berlin zum Sohnemann gesagt: „Bub, jetzt ist der Hitler Kanzler. Das bedeutet Krieg, und dieser Krieg bedeutet das Ende Deutschlands.“175 Er rechnete nicht damit, dass das Reich dadurch noch weiter wächst. So hatte sich auch Ernst Reuter 1933 über die Ostprovinzen geäußert.176 Und wie oft ist das besonders seit dem Beginn des Kriegs immer wieder von Diplomaten bis hinunter ins einfache Volk geäußert worden? Die Gebiete östlich der Oder werden bei einer weiteren Niederlage nicht mehr zu halten sein. Aber ein Carl Friedrich Goerdeler fährt nach dieser Katastrophe ernsthaft heftige Geschütze auf. Bis wann werden sich derartig illusorische Gebietsforderungen nach einer solchen bedingungslosen Kapitulation weiter aufrechterhalten lassen? Bis 1950? Bis 1970? Oder vielleicht bis 1990? Oder wird jemand bemerken, dass es sich bei der utopischen Forderung nach dem Deutschen Reich in seinen Grenzen vom 31. Dezember des Jahres 1937, das heißt mit Schlesien, mit Ostpreußen und weiteren Gebieten, um einen Schwindel handelt?

Die Idee hinter den Gebietsforderungen scheint tatsächlich zu sein, dass mit ihrer Hilfe eine ernsthafte juristische Hürde für den Abschluss eines regulären Friedensvertrages aufgetürmt wird. Waren jene Reparationsforderungen nach dem Weltkrieg von 1914 bis 1918 bereits unbezahlbar, so geht es nunmehr darum, einem neuerlichen Eisberg an Forderungen der Siegermächte zu entgehen. Wenn Hitlers Krieg irgendwann vorüber ist, wird es ja ohnehin heißen, Deutschland habe von den Reparationen für den ersten Weltkrieg vor drei Jahrzehnten bei Abzug der westlichen Kredite nur drei Milliarden Mark bisher netto bezahlt. Allein für diesen Eisberg hat Deutschland noch viele Jahrzehnte hart zu arbeiten.177

Die dritte Komponente des Planes rundet diesen Giftmix ab. Den kalten Krieg müssten die Mächte rund um ein geschlagenes Deutsches Reich in Zukunft mit Atombomben führen, mit neuartigen Waffen, an denen hier seit 1939 gearbeitet wird und die andere Staaten inzwischen ebenso auf dem Wunschzettel haben. Dieses Teufelszeug muss alles in den Schatten stellen, womit bisher Kriege geführt wurden, damit es nach dem Sturm keinen weiteren Windhauch in Europa geben kann, wollen Tommys und Yankees nicht diesmal ihre eigene Vernichtung herbeiführen. Dabei sind die Deutschen gezwungen, mit höchstem Einsatz in zwei Richtungen zu arbeiten: Sie müssen die Forschung so schnell wie möglich vorantreiben und deren Ergebnisse dem Führer zugleich vorenthalten, damit der Irre nicht meint, er könne derartige Bomben zur Erringung seines Endsieges verwenden. Dass diese „die Explosivkraft der bisher stärksten Explosivstoffe um mehrere Zehnerpotenzen übertreffen“, stand ja schon 1939 in einem Bericht von Werner Heisenberg* an das Heereswaffenamt.178

Was die Gefahr anlangt, wenn Gröfaz – der Größte Feldherr aller Zeiten auf dem Obersalzberg – solche unvorstellbar zerstörerische Bomben in die Finger bekommt, tauschten sich schon am 2. Februar 1940 beispielsweise auch die Atomforscher Manfred von Ardenne und Max Planck aus. Planck sagte damals: „Die Folgen werden unvorstellbar sein, wenn dieses Machtmittel in unrechte Hände gerät.“ Manfred von Ardenne hat sich im September 1940 dann mit dem Atomphysiker Carl Friedrich von Weizsäcker und dessen Vater, dem Staatssekretär im Auswärtigen Amt Ernst von Weizsäcker in dieser heiklen Frage ausgetauscht. Im Oktober 1940 folgte Carl Friedrich von Weizsäcker einer Einladung zum Gegenbesuch im Institut Manfred von Ardennes in Berlin-Lichterfelde. Dabei übergab Carl Friedrich von Weizsäcker seinem Kollegen ein Gutachten, in dem er schrieb, dass „Atombomben aus einem trivialen Grund in der Praxis gar nicht funktionieren können: Bei hohen Temperaturen, wie sie unzweifelhaft bei der Uranspaltung auftreten, müsste die Kettenreaktion rein theoretisch wieder zum Stillstand kommen.“ Die Bombe könne also gar nicht explodieren.179 So wurden die Hoffnungen Hitlers gedämpft. Es ist abwegig, hier von Vaterlandsverrat zu sprechen. Wenn Hitler Waffen dieser Art in die Hand bekommt, dann wird er sie zweifelsfrei einsetzen, und zwar gegen London. Doch mit der Zerstörung von ein, zwei Städten in England ist nicht das Land verschwunden. Im Übrigen bleibt Amerika auf dem Plan. Dafür wird man sich über kurz oder lang an Deutschland rächen und wer das nicht verhindert, der begeht Vaterlandsverrat.

Als Fritz Houtermans in den Gewissenskonflikt geriet, seinen eigenen, praktikablen Weg zum Bau der Atombombe gefunden zu haben, sie aber nicht entwickeln wollte, vertraute er sich endlich dem Hitlergegner Max von Laue an. Sein Physikerkollege war deutlich entspannter und sagte zu ihm: „Verehrter Kollege. Eine Erfindung, die man nicht machen will, macht man auch nicht.“ Daraufhin schickte Houtermans ein warnendes Telegramm an seinen früheren ungarischen Kollegen Eugene P. Wigner, der in die USA gegangen war, in dem stand: „Beeilt Euch! Wir sind nahe dran!“ Seit September 1941 sieht auch Heisenberg „eine freie Straße zur Atombombe“. Werner Heisenberg selbst ist jedoch genau wie auch Carl Friedrich von Weizsäcker der Überzeugung, dass die an dem deutschen Atomprojekt beteiligten Forscher mit nur wenigen Ausnahmen eine derartige Waffe aus Prinzip nicht wollen. Über den aktuellen Stand, was die Atomforschung im Deutschen Reich anlangt, sollte dann Ende Februar 1942 auf einer Tagung einer Arbeitsgemeinschaft „Kernphysik“ berichtet werden. Die Tagung fand statt, aber ohne die verehrten Ehrengäste der Veranstaltung: Hitler, Göring und Bormann. Einige der Forscher hatten sich von deren Anwesenheit einen Auftrieb für das Atomprojekt erhofft. Andere verstanden es, die drei fernzuhalten. Hitler hofft weiter auf diese Bombe der Bomben und obwohl Göring im April 1942 die Forschung für Projekte untersagte, die erst nach dem Krieg nutzbar sein würden, blieb die Bombe auf dem Wunschzettel und Albert Speer sagte den Forschern am 4. Juni 1942 zu, als Reichsminister könne er die notwendigen Mittel in jeder Höhe beschaffen. Heisenberg, Hahn und Weizsäcker versuchten abzuwiegeln, die Forschung werde sicher noch ein paar Jahre dauern.180

General Leslie R. Groves, der Chef des Manhattan-Projects, mit dem die Amerikaner seit Ende 1941 auch eine solche Atombombe bauen wollen, meint Anfang 1943, dass die deutsche Kernenergieforschung bis zu dem Punkt gediehen sei, an dem Deutschland gegen Amerika oder, was dem Chef wahrscheinlicher scheint, gegen die Briten Atombomben einsetzen könnte. Für realistischer hält er jedoch, dass das Reich an einer gewöhnlichen Bombe arbeitet, die radioaktives Material enthält. So könnte man radioaktive Sperren in Europa legen, wenn britische und amerikanische Truppen versuchen, auf dem Kontinent zu landen.181 Wird die Lösung in jener heiklen Geschichte darin bestehen, Hitler immer wieder Probleme vorzugaukeln und nach der Niederlage des Reichs, die irgendwann doch eintreten muss, die deutschen Forscher und Techniker gleichmäßig auf die Großmächte aufzuteilen? Wenn die erst einmal in den Besitz solcher Bomben kommen und sich gegenseitig nicht mehr über den Weg trauen, wird sie das endgültig entzweien. Nach der absehbaren Niederlage wird Deutschland sowieso wieder militärisch gestutzt und wird nichts von der Art wie Atomwaffen haben dürfen. An der Stelle möchte ich ausnahmsweise Berichte über den weiteren Verlauf in dieser Angelegenheit in den Jahren bis 1945 erwähnen, weil sie Zweifel daran verstärken, dass unter Umständen deutsche Atomforscher aus rein persönlichen Gründen nach dem Krieg nach Amerika überwechselten, genau wie es schon eine sinnvolle Erklärung dafür geben müsste, warum deutsche Forscher – auch in freier Entscheidung – 1945 ausgerechnet in die kommunistisch regierte Sowjetunion gingen, unter ihnen so hochkarätige Experten wie Manfred von Ardenne*, der, wie der Name schon sagt, obendrein ein Adliger war.

Schauen wir einmal in die Memoiren des Wissenschaftlers Manfred von Ardenne, die er in den 1980er Jahren über die Absprachen schrieb, die er 1944 mit einem Industriellen traf, der dann die Wirtschaft der B.R.D. mit aufgebaut hat. Im Sommer 1944, äußert er dort, habe Dr. Hermann von Siemens Ardennes Institut in Berlin-Lichterfelde letztmalig besucht und erinnert sich so: „Bei dieser Gelegenheit nahmen wir kein Blatt vor den Mund. Der Krieg war verloren. Wir besprachen Möglichkeiten, wie wir unsere Mitarbeiter in dem zu erwartenden Chaos bei Kriegsende am besten schützen konnten.“ Obwohl ihm nach seinem eigenen Bekunden eine Bescheinigung ausgestellt worden war, die es ihm ermöglicht hätte, zusammen mit der Familie und den meisten Anlagen und Dokumenten Berlin zu verlassen und einen Ort im Westen Deutschlands aufzusuchen, habe er sich damals „zum Bleiben – und damit für die sowjetische Seite“ entschieden. Ein Motiv dafür benennt er zwar nicht, aber in einem Satz, der eine verständliche Erklärung vielleicht ersetzen sollte, offenbart der Atomforscher, dass bei weitem nicht allein er und seine Familie in diese einigermaßen ungewöhnliche Richtung gingen: „Das so fest zusammengewachsene wissenschaftlich-technische Kollektiv mit seiner vielfältigen Tradition zerflatterte nicht im Sturmwirbel der Ereignisse.“182

Wäre das so fest zusammengewachsene Forscherteam um Ardenne nun nicht freiwillig für die weitere Arbeit nach dem Krieg in die Sowjetunion gegangen, würde sich gar nicht die Frage ergeben, weshalb die Forscher rund um Wernher von Braun eigentlich in die United States of America gehen wollten. Abgesehen von der entgegengesetzten Himmelsrichtung ähneln sich diese Texte: „Das Raketenteam beschloss, zusammenzubleiben und den Kontakt zu den Amerikanern zu suchen. Der Krieg war für uns verloren.“ Von Braun lässt den Laien ebenso ob der diesbezüglichen Motive im Dunkeln tappen. Sein Biograph Johannes Weyer hat vermutlich gründlich recherchiert, bevor er schrieb: „Wieso von Braun sich für die USA entschied, hat er nie befriedigend erklären können.“ Was Braun als Verhaftung deklarierte, deute ich als einen Begleitschutz der SS nach Bayern. Dort wartete er, genau wie der schon erwähnte spätere Chef des westdeutschen Geheimdienstes BND Reinhard Gehlen, in den Alpen das Ende des Weltkrieges ab, und dann geschah das entscheidende Wunder, für das es wieder keine Erklärung gibt: Hans Kammler, der SS-Chef von Peenemünde, der die Atomforscher um Wernher von Braun* bis Bayern begleitet hatte, war plötzlich „spurlos verschwunden, und die Kontrolle durch die SS lockerte sich in den letzten Kriegstagen. So konnte der Entschluss fallen, die Kontaktaufnahme mit den Amerikanern zu wagen.“183 Wo ist die SS denn sonst noch nett mit ihren Gefangenen umgegangen? Diese etwas kurz angebundene Erklärung über die Auflösung der bösen SS in Luft wirkt auf mich nicht so, als ob da jemand die Wahrheit so laut wie möglich in die Welt hinausschreien wollte. Aber gut.

Mit meinen Überlegungen zum Ursprung des Kalten Krieges, die ich auf den letzten Seiten des Buches entwickelt habe, will ich diese Darstellung der Jahre 1942/43 unterbrechen. Erstens würde das Buch sonst zu dick und unhandlich und zweitens war es das Ziel meiner Bemühungen vom ersten Moment an, die Rahmenbedingungen für deutsche Diplomaten, Generäle und Politiker in ihren aktiven Jahren unter der Diktatur eines gewissen Adolf Hitler aus einem Dorf im österreichischen Wald für erst später Geborene so aufleben zu lassen, dass sie sich realistisch vorstellen können, dass eine solche Idee im Bereich des Vorstellbaren liegt. Aber es gibt doch schon verschiedene Theorien, wie der Kalte Krieg zustande gekommen war, sagen Sie? Wenn es nicht so unterschiedliche Deutungen in der vorliegenden Literatur gäbe und wenn mich eine davon überzeugt hätte, wäre ich nicht seit Jahrzehnten am Ball geblieben und hätte alles zusammengetragen, was das Bild noch abrunden kann. In der Tat habe ich so lange gesucht, bis die neuen Fundstücke unsichere Deutungen im Kern eher bestätigt haben, als neue Fragen aufzuwerfen. Geschichte besteht meiner Meinung nach aus unendlich vielen Puzzleteilen, und wenn jemand eine bestimmte Theorie um jeden Preis beweisen will, so wird er hinreichend viele Argumente für alles entdecken. Er muss sie dann bloß entsprechend zurechtkürzen oder in der Bedeutung aufblähen. Daneben ist es auch beliebt, abstrakte Buhmänner aufzubauen wie beispielsweise den Russischen Bären, denen man ohne näheres Hinsehen schon einmal jede böse Absicht in die Schuhe schieben kann.

Wenn man jedoch an anderer Stelle Puzzleteile findet, die ein Argument oder eine Schlussfolgerung aushebeln, dann muss ganz gewiss noch einmal neu nachgedacht werden. Dafür ist die gerade eben angesprochene Forschung an der Atombombe ein gutes Beispiel. Wie kann ein Autor in dieser Frage zu der Feststellung gelangen, die Arbeit an Atomwaffen sei im April 1942 nicht weitergeführt worden, weil es die Quelle gibt, die besagt, dass zu dieser Zeit Projekte verworfen wurden, die erst in der Zeit nach dem Krieg genutzt werden konnten, wenn auch die Quelle existiert, die besagt, dass der zuständige Albert Speer am 4. Juni 1942 den Atomforschern zugesagt hat, als Reichsminister könnte er ihnen die notwendigen Mittel in jeder Höhe beschaffen? Außerdem wird berichtet, dass in den Jahren danach Atomforschungsanlagen aus bombardierten Städten in kleinere Städte verlagert wurden. Daraus muss man beim ernsthaften Bemühen um die Rekonstruktion des Herganges schlussfolgern, dass im Jahr 1942 die Arbeiten nicht eingestellt worden sein können. Wenn nun ein deutscher Autor trotz alledem schreibt, dass die Forschung an Atomwaffen im Deutschen Reich im Jahre 1942 eingestellt wurde, muss man sich nur noch zwei Fragen stellen: Ob der alternative Autor die Quellen nicht kannte, die seine Schlussfolgerung widerlegen, oder ob er eine vorgefasste These auf Biegen und Brechen belegen wollte. Die zweite denkbare Möglichkeit wäre allerdings weit entfernt von den Kriterien wissenschaftlicher Arbeit.

Ich kann Ihnen an dieser Stelle bereits sagen, dass im Anschluss an das vorliegende Buch und vor der Darstellung der Jahre zwischen 1943 und 1988 der Indizienbeweis im nächsten Band geführt wird. Es wird darin um die Jahre 1989 und 1990 gehen und der Band wird den Titel tragen: Entzaubert. Kohl und Genscher, diese beiden. Das Ende der Geschichte. Auf diese Art erspare ich mir die Diskussion, ob es die Sowjets und alle anderen mit dem Vereinigen Deutschlands wohl ernst gemeint haben in den Jahrzehnten dazwischen oder nicht. 1990 zeigt, dass es möglich gewesen ist, und es zeigt auch, wie es Bonn über Jahrzehnte geschafft hat, die Vereinigungsdebatten auf Sankt Nimmerlein zu verschieben.

Wenn Sie sich nur einmal eine Nahaufnahme von der Trauerfeier neben dem Brandenburger Tor und vor dem Berliner Reichstag am 3. Oktober 1990 ansehen, als die Teilung von Deutschland zu Grabe getragen wurde und Kohl und Genscher bleierne Gesichter haben, wissen Sie, dass etwas faul ist an der story mit dem Einheitskanzler. Hannelore Kohl versuchte sich ab und zu die Mundwinkel hochzuziehen, das war alles. Im Unterschied zu ihnen blickte Willy Brandt in seine Gedanken versunken in die jubelnde Menge und wird sich erinnert haben, wie viel Kraft, Mühe und Zeit er über mehrere Jahrzehnte investiert hat und wie glücklich er sein konnte, dass er diesen Moment noch erleben durfte.