Vergleichen wir nun die sowjetischen mit den deutschen Panzern. Nein, nicht jeder Panzer kann der beste auf der Welt sein, und diese deutschen Panzer erfüllen nicht alle fünf Parameter für Panzer neuester Bauart. Es gibt leider auch keinen deutschen Panzer, der vier Kriterien von Panzern neuester Bauart erfüllt. Es ist ganz unschön, dass auch kein Panzer drei erforderliche Qualitätsmerkmale aufweist. Bedauerlicherweise hat auch keiner der deutschen Panzer zwei dieser Parameter. Aber wirklich ganz unschön ist, dass kein einziger deutscher Panzer ein mickriges Merkmal eines Panzers der neuesten Bauart hat. Es mag ja sein, dass es in ferner Zukunft tolle Weiterentwicklungen Made in Germany geben wird – die stehen aber zum Zeitpunkt des Angriffs noch lange nicht zur Verfügung. Das dürfte der Hauptgrund sein, warum Jossif Wissarjonowitsch Stalin keinen der hin- und hergeschobenen Angriffstermine abgekauft hat. Und jetzt staunt er, dass die Wehrmacht mit ihren 3410 Panzern in sein Land vorstößt und nicht aufzuhalten ist. Dagegen hilft die Propaganda freilich auch nicht. Praktisch heißt das, die Rote Armee hat viele neueste Panzer sowie viele veraltete und leichte Panzer, und die Wehrmacht hat keinen neuesten Panzer sowie ein paar veraltete und leichte Panzer. Damit sind 24.000 sowjetische Panzer plus minus x gegen ungefähr 3400 Panzer in Hitlers Wehrmacht gegeneinander angetreten.119 Aber man muss ja auch bloß zurückzublicken. In den Verhandlungen mit den Westmächten um den gemeinsamen Kampf gegen die Ausdehnung Deutschlands vor zwei Jahren im Sommer 1939 hatte Boris Schaposchnikov erklärt, sein Land sei bereit, 136 Divisionen inklusive 5000 schwere Geschütze und bis zu 10.000 Panzer sowie 5000 bis 5500 Flugzeuge einzusetzen. Hat Stalins Armee nach zwei Jahren weiterer Aufrüstung auf einmal weniger Panzer als 1939? Da hieß es, Moskau habe im Kriegsfalle „nicht die Absicht, die defensive Taktik einzuschlagen“, sondern wünschte sich umgekehrt mit Angriffsoperationen am Krieg zu beteiligen, wohlgemerkt noch ohne die Panzer neuester Bauart im Verständnis von 1941.120 Die gute sowjetische Propaganda legt den Fritzen dann noch weitere Panzer drauf, doch auch wenn die Wehrmacht zusammen mit den Bündnispartnern letztlich 4171 Panzer oder noch einige mehr zu ihrer Verfügung hätte, verfügt die Rote Armee allein mit den Möglichkeiten vom August 1939 über viel mehr als die Achsenmächte. Und das hektische Wettrüsten begann erst nach dem Sommer 1939.121

Sehen Sie, so funktioniert kreative Buchführung im Kommunismus. Die Methode dürfte Churchill gemeint haben, als er lästerte, er vertraue nur der Statistik, die er selbst gefälscht habe. Und er weiß, wovon er spricht. Bei einer späteren Geschichtsaufarbeitung schreibt der Ex-Premier ohne dabei rot anzulaufen: „Es ist wahrscheinlich, dass Deutschland im letzten Jahr vor dem Ausbruch des Krieges mindestens doppelt so viel und wahrscheinlich dreimal so viel Kriegsmaterial wie Großbritannien und Frankreich zusammen hergestellt hat, und auch dass seine großen Werke zur Panzerproduktion ihre volle Kapazität erreicht haben.“ In diesem Sinn sind die Sowjets gute Schüler. Bei anderen Gerätschaften geht man analog vor. Es heißt, man habe 34.695 Geschütze und Mörser (ohne 50 mm) – und ist ein solches Gerät von 37 bis 50 Millimeter nicht tödlich? Wie viele davon haben sie und wozu haben sie diese überhaupt gebaut? Nach demselben Schema rechnen sie ihre Luftstreitkräfte herunter: Sie haben 1540 Flugzeuge neuer Typen und außerdem noch eine große Anzahl veralteter Flugzeuge. Aber die Luftstreitkräfte haben allein seit dem Jahre 1938 23.245 Kriegsflugzeuge erhalten und die Rote Armee hat zur Zeit 148.000 Geschütze und Granatwerfer aller Gattungen und Systeme. Zur Ausstattung der Roten Seekriegsflotte gehören neben einer Vielzahl anderer Schiffstypen allein 291, nach sowjetischen Angaben jedoch mindestens 213 U-Boote. Die Sowjetunion gebietet damit über eine größere U-Bootflotte als alle anderen Länder der Erde, und sie übertrifft die führende Seemacht England in der Zahl der U-Boote um mehr als das Vier- bis Sechsfache. Auf dem Wasser haben sie 269 Schiffe. Übrigens gibt es auch bei Flugzeugen ein Beispiel für die Bevorzugung der Sowjets durch amerikanische Firmen: Vor Kriegsbeginn erhielt Stalins Armee aus den Vereinigten Staaten das beste Transportflugzeug der Welt für Luftlandeoperationen – Oops! Da erinnert man sich an die Felddienstordnung der Roten Armee von 1936, in der der Einsatz von Luftlandetruppen nur bei Angriffsoperationen und lediglich im Zusammenwirken mit den von der Front aus angreifenden Truppen vorgesehen ist. Das ist ja gleich noch so ein Hinweis auf den vorgesehenen Angriff. Bei dem Flugzeug handelt es sich um die Douglas DS-3 und es wurde auch gleich die Produktion des nämlichen Typs in der Sowjetunion angekurbelt.122 Das wirft uns wieder auf die Frage zurück, wie sich das mit der Neutralität der USA in diesem Krieg vereinbaren lässt. Aber an diesen völkerrechtlichen Klimbim hielt man sich ja schon im Weltkrieg zuvor nicht. Wie erklärt es sich, dass das immer dann als Problem gewertet wird, wenn Adolf Hitler alles egal ist? Wenn Imperialisten seit Jahrzehnten und Jahrhunderten in der großen weiten Welt das Gleiche in Grün machen, wird herausgestellt, dass dort in den Zeitungen steht, dass sie im Inland Demokratie haben. Was dann im Ausland verzapft wird, müssen die kommerziell betriebenen Medien dem dortigen Publikum bloß irgendwie plausibel darstellen. Wenn auch diesmal wieder fremde Staaten durch anglo-amerikanische Firmen zum möglichst umfang- und verlustreichen Krieg gegeneinander aufgerüstet werden, bleibt der Krieg erneut das Problem dieser Staaten. Das nennen sie am Feuer der Kamine der Kriegsgewinnler die feine englische Art.

Kommen wir mitten in dieser übergroßen menschlichen Tragödie zu der Sache mit den fehlenden Karten. Weil man im Kreml nicht einkalkuliert hat, dass man womöglich das eigene Territorium verteidigen muss, sind viel zu wenige brauchbare Karten davon vorhanden. Wofür sind Karten im modernen Krieg notwendig? Früher haben die Soldaten ihre Gegner gesehen und auf dem Feld geschlachtet. Von daher rühren ja die Worte im Felde und Schlacht. Sehen und gesehen werden ist inzwischen längst veraltet. Wenn sich eine Batterie im Jahr 1941 aber verbergen will, dann sieht sie die Gegner nicht mehr. Die Richtkanoniere sehen die jeweiligen Ziele also nicht. Das ist nicht gut und darum entwickelte man eine kluge Lösung: Der Batteriechef ist bei der Bekämpfung verdeckter Ziele nicht bei seiner Batterie, sondern dort, von wo aus er den Gegner sehen kann. Das ist phantastisch. So kann er die Befehle geben, wohin und wie man zu schießen hat. Nun kennen Sie sicher alle das Spiel Schiffe versenken. Die Blätter der Teilnehmer werden mit einem Koordinatennetz versehen und jeder markiert sich, wo man welches Schiff vielleicht haben möchte, und dann sagt man zum Beispiel G8 und der andere teilt mit, ob er wohl auf dem Feld G8 eines seiner Schiffe hatte. Ist dem so, dann ist es somit versenkt. Jetzt probieren Sie dieses Spiel einmal ohne Koordinatennetz. Nun hat der Batteriechef eine Karte und der Führungszugführer hat eine Karte. Ohne diese beiden Karten kann die Artillerie nicht arbeiten. Man muss dann wie früher den Gegner sehen, doch wird im Gegenzug selbst auch gesehen und unter Umständen „versenkt“, um im Bilde zu bleiben. Also benötigt jede Batterie zwei komplette Sätze topographischer Karten für ihren Einsatz. Mindestens. Eigentlich braucht sie noch mehr und das Ganze bis hinauf zum Divisionskommandeur. Sonst wird es so schwierig im Zusammenspiel wie bei einem Orchester, in dem weder die Musiker noch ihr Dirigent Notenblätter zur Verfügung haben. Zu den Leidtragenden zählt nun ausgerechnet auch noch Stalins Sohn Oberleutnant Jakow Iossifowitsch Dshugaschwili, Chef der fünften Haubitzenbatterie des 14. Haubitzenregiments des siebten mechanisierten Korps. Als Gefangener der Wehrmacht sagt er: „Die Karten ließen die Rote Armee im Stich, da der Krieg entgegen den Erwartungen weiter östlich von der Staatsgrenze entbrannte.“ Ja, die Soldaten sind für den Angriff ausgebildet und eben auch nur für den Angriff. Generalmajor N. I. Birjukov befehligt die 186. Schützendivision des 62. Schützenkorps der 22. Armee. Er berichtet, die einzige topographische Karte, die er sich selbst schon vom Stabschef des 21. mechanisierten Korps erbettelt hatte, wurde ihm letzten Endes vom Befehlshaber seines Korps Generalmajor Karmanov abgenommen. Die Division umfasst 13.000 Soldaten und viel technisches Zeugs, aber nicht einen kompletten Kartensatz der Gegend, die sie verteidigen müssten.123

Jetzt wird man sagen, dass Hitler mit seinem Angriffsbefehl bloß einem Überfall der Roten Armee auf unser friedliebendes Drittes Reich zuvorgekommen sei. Aber man darf das Leben auch nicht bloß schwarz-weiß zu sehen versuchen: Täter, Opfer, Schlägerei. Denn da gibt es viel mehr Kombinationen als man glauben möchte. Manchmal ist es angezeigt, das Leben einmal schwarz-schwarz zu betrachten, um der Realität ein wenig näher zu kommen. Erstens stehen die Truppen des Führers nicht völlig zufällig jetzt schon in Ländern von der Westküste Frankreichs bis in den Norden von Norwegen und in den Süden Europas. Zweitens braucht der Angreifer eine klare Überlegenheit über den potenziellen Gegner. Diese qualitative wie auch quantitative haushohe Überlegenheit hat der Mann aus Georgien auf seiner Seite. Wie hätte Er bei Seinem schwarz-weißen Weltbild vermuten können, dass der Steppke ihn ernstlich angreift? Der weise Stalin hat auf den gesunden Menschenverstand (beim Gegner) gehofft. Aus diesem Grund ließ er weder einen Verteidigungsplan erstellen noch wichtige Brücken über seine Grenzflüsse sprengen. Noch vier Tage nach dem Angriff kann die 8. Panzer-Division zwei große Brücken über die Düna vor ihrer Sprengung unversehrt übernehmen.124 Ein Blick nach Norden genügt: Die winzige Armee der Finnen hatte über einige Monate dem Ansturm der Roten Armee standgehalten, eben weil sie sich auf die Verteidigung und den Aufbau der Mannerheim-Linie konzentriert hatte. Die Rote Armee muss sich nach wenigen Stunden bereits weiter zurückziehen als die finnische Armee nach Wochen. Aber in der Konstellation, in der zwei feindliche Armeen zu einem Angriff gegeneinander antreten, ist es offenkundig wichtiger, wer zuerst losschlägt, als die Frage, welche Qualität die militärische Ausstattung des überraschten Gegners hat. Wer die Nase vorn hat, bringt die Planung seines Gegenübers derartig durcheinander, dass er weit durchstoßen kann und alles einsammeln, was die anderen zurückgelassen haben. Hätte die Rote Armee selbst angegriffen, wäre sie schnell in Paris gewesen. Das sind von Białystok aus gerade mal 1526 Kilometer. Nun greift die Wehrmacht an, da kann man sich locker ausrechnen, dass sie auch nicht länger braucht bis Stalingrad. Das sind auch nicht mehr als 1570 Kilometer. Nur würde die Rote Armee in Paris erst mal als Befreier bejubelt und die Wehrmacht sollte mit Gegenwehr aus den Tiefen Russlands rechnen. Russland ist einfach etwas größer als sich das unser Steppke vorstellen kann. Abschotten will er Sein Reich an der Wolga gegen einen russischen Rumpfstaat im riesigen Sibirien...

Ohne Pläne für die Verteidigung der vielen Städte und ohne Landkarten des Territoriums, das um ein Vielfaches größer als das Deutschlands ist, hätte es jede Armee der Welt schwer. Überdies lässt sich Adolf Hitler ja auch nicht lumpen und setzt alles in allem 4,6 Millionen Soldaten an der Ostfront ein. Doch seine Planung ist genau so löchrig wie die des lieben Genossen Stalin. Auch er forderte keine ausgearbeiteten Alternativen zu einem kurzzeitigen Feldzug und ließ keinerlei Reserven für unvorhergesehene Situationen anlegen. Die Treibstoffvorräte sind bloß für 700 bis 800 Kilometer Fahrt berechnet. Was dann noch fehlt, soll durch „Selbstversorgung“ beschafft werden. Er denkt auch nicht anders als die Tante im Kino: „Das ist egal, Sieg ist Sieg!“ Munition und Lebensmittel reichen für 20 Tage. Dann muss der Blitzkrieg in dem Flächenland schneller vor sich gehen als im putzigen kleinen Belgien. Was soll es werden, wenn in Russland der Plan für den Siegeszug diesmal nicht aufgeht? Aber letzten Endes ist alles halb so schlimm und die eklatanten Fehler und Versäumnisse des einen Alleinherrschers finden ihren Ausgleich im Abenteurertum des anderen. Schade nur um die vielen zerstörten Leben der vielen Menschen zwischen zwei Vollpfosten und reichen Strippenziehern.125