Es ist vielleicht nicht uninteressant, in welchem Zusammenhang sich die zwei Genossen Molotov und Stalin kennengelernt haben. Molotov, oder eben Skrjabin, hat ab 1911 am Polytechnischen Institut zu Sankt Petersburg studiert und für die unter dem Zaren illegale Prawda geschrieben, deren leitender Redakteur seinerzeit Jossif Wissarjonowitsch Stalin war. 1917 kamen durch die Oktoberrevolution die Bolschewiki auf die Bühne; im Jahre 1918 wurde der Chefideologe Lenin durch ein Attentat schwer verletzt und im Januar 1924 verstarb er. Der große Vordenker bemühte sich noch im Jahre 1920, ein gewisses Gleichgewicht zwischen dem Ziel einer kommunistischen Weltrevolution und den realen Möglichkeiten zu ihrer Verwirklichung herzustellen und zu fixieren. Die Diskussion wurde unter den Genossen äußerst leidenschaftlich geführt. Noch im Beschluss „Zur Russischen Revolution“ des Weltkongresses der Kommunistischen Internationale (Komintern) wurde der Grundsatz so formuliert: „Der IV. Weltkongress mahnt die Proletarier aller Länder daran, dass die proletarische Revolution nie innerhalb eines einzigen Landes vollständig siegen kann – dass sie vielmehr international, als Weltrevolution siegen muss.“ Das war ’23. Halbherzig hat Stalin aus der Parteiführung noch am Grabe von Wladimir I. Lenin geschworen, „die Kommunistische Internationale zu festigen und zu erweitern“. Danach entbrannte die Diskussion richtig. In der immer rauer werdenden ideologischen Polemik wurde die Frage der Weltrevolution im Zusammenhang mit der Möglichkeit eines Sieges des Sozialismus vorerst in einem einzelnen Land aufgeworfen. Stalin hat diese These in seinem Artikel „Die Oktoberrevolution und die Taktik der russischen Kommunisten“ auf den Punkt gebracht. Um die Heißsporne in der Parteiführung mit ihrer Weltrevolution auszumanövrieren, hat er damals die Zügel straffer in die Hand genommen und den Parteiapparat zunehmend zentralisiert und auf seine eigene Person fixiert. Seit Herbst 1925 versuchten Sinowjew und Kamenew, eine „Neue Opposition“ gegen Stalin zu begründen. Dafür näherten sie sich, wenn auch widerwillig, an Trotzki an, um den sich auf Hyperzentralismus sowie auf Autarkie ausrichtenden Kurs Stalins zu bremsen. Wer sich zur Kritik bemüßigt sieht, sollte sich entscheiden, ob ihm wohl Zentralismus in der Partei lieber ist oder der Versuch, der ganzen Welt den kommunistischen Glücksentwurf überzuhelfen. Man kann aber auch beides wollen oder ablehnen.175

Zu der Zeit vor anderthalb Jahrzehnten ergänzte der Genosse Stalin die Neuausgabe seines Sammelbands Über die Grundlagen des Leninismus um einen weiteren großen Komplex unter dem Titel „Zu den Fragen des Leninismus“, der unmittelbar gegen die beiden Genossen Sinowjew und Kamenew gerichtet war. Zu bekannten Streitpunkten über Begriffe und Sichtweisen des Leninismus, der Diktatur des Proletariats sowie anderer gesellte sich nunmehr die Frage des Sozialismus in einem Land und des sozialistischen Aufbaus hinzu. Über die Jahre hat sich diese Problematik zum Dreh- und Angelpunkt aller weiteren Auseinandersetzungen in der Theorie des Kommunismus entwickelt. Dabei wurde nun die These von der Möglichkeit des Sozialismus in einem Lande dem Grundprinzip der Weltrevolution als direkter Antipode entgegengestellt. Da Kommunisten diskussionsfreudige Gesellen sind, hat Grigori Sinowjew, der 1926 noch das VI. Erweiterte Plenum des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale geleitet hat, in der Schlussrede ausgeführt: „Marschieren wir alle in geschlossenen Reihen für die Sache der Komintern. Nicht die kommende, bereits unsere Generation wird den Sieg des Sozialismus in Europa und, so hoffen wir, nicht nur in Europa erleben.“ Am 10. Mai des Jahres 1926 hielt es der deutsche Kommunist und leitende Mitarbeiter des Exekutivkomitees Josef Eisenberger für notwendig, einmal mehr die Frage des Kampfes um die Macht in Deutschland aufzuwerfen. Doch die sogenannte Ära Sinowjew stand da bereits vor ihrem bitteren Ende. Im Juni ’26 schrieb Jossif Stalin privat an den Genossen Molotov, dass man die Sinowjew-Gruppe im Exekutivkomitee entwaffnen müsse, weil diese besonders schädlich geworden sei. Entsprechend wurde auch gehandelt. Das Politbüro der Partei gab ab sofort von sich aus konkrete Direktiven an die nationalen Sektionen heraus, zum Bergarbeiterstreik in England, zur Lage in China usw. Damit war das sogenannte EKKI praktisch kaltgestellt und es wurde sogar von der Beratung zentraler Entscheidungen ausgeschlossen. 1926 wurde Molotov durch den Steigbügelhalter Stalin Vollmitglied des Politbüros der Kommunistischen Partei und dann auch Mitglied des Präsidiums und des Politsekretariats des EKKI. Ende 1926 tagte das VII. erweiterte Plenum des EKKI, auf dem Grigori J. Sinowjew die Konsequenz zog oder ziehen musste und auf den Vorsitz verzichtete. Stalin sprach in seinem Referat zu innenpolitischen Fragen im Rahmen seiner Kritik an Trotzki, Sinowjew und Kamenew von einer sozialdemokratischen Abweichung und rückte die These vom „Sozialismus in einem Land“ an die erste Stelle. Trotzki, der einst Leib Dawidowitsch Bronstein hieß, wies bei dieser Gelegenheit darauf hin, dass selbst der Versuch, das ökonomische und das politische Schicksal der Sowjetunion aus dem Zusammenhang und den Wechselwirkungen der Weltwirtschaft herauszulösen, ein Nonsens wäre. Für den vollen Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft, deren Produktivkräfte die des Kapitalismus überstiegen, seien nicht einige Jahre, sondern Jahrzehnte notwendig. Um Trotzki zu übertrumpfen setzte Stalin noch eins drauf und postulierte, dies werde wohl noch ein Jahrhundert dauern, die Optimisten. In seinem Beschluss „Zur Russischen Frage“ legte das Plenum des EKKI fest, dass die Sowjetunion über alles für den Aufbau einer „vollen sozialistischen Gesellschaft“ Notwendige verfüge; sie sei ja bereits zu einem entscheidenden Zentrum der internationalen Revolutionsbewegung geworden. Der Opposition wurde dagegen vorgeworfen, die Parteipolitik in empörender Weise verleumdet zu haben, indem sie Genossen Jossif W. Stalins Programm als Ausdruck nationaler Beschränktheit kritisiert habe. Trotzki stellte sich noch Ende 1927 in der EKKI-Präsdiumssitzung hin und erklärte, dass das Regiment Jossif Stalins die Partei und die internationale Revolution immer teurer zu stehen komme und dass das persönliche Unglück Stalins, das immer mehr zu einem Unglück der Partei werde, in der ungeheuren Diskrepanz zwischen den (mangelnden) Ideenressourcen Stalins und der Macht des in seinen Händen konzentrierten Partei- und Staatsapparats bestehe. Im weiteren Verlauf seiner Rede schlussfolgerte Trotzki, das bürokratische Regiment führe zur Alleinherrschaft. Richtig, noch am Tage seiner Rede wurde auch Trotzki aus dem Gremium hinausgeworfen. Wer dann noch weiter von der Weltrevolution schwätzte, galt als Trotzkist. Stalin wollte eben keinen Konkurrenz-Sozialismus zu seinem. Hätte eine Revolution in einem der ökonomisch viel weiter entwickelten Staaten Westeuropas oder Amerikas gesiegt, wäre Seine Sowjetunion nicht mehr Leuchtturm, sondern Schlussleuchte gewesen. Es war sicherlich schlau berechnet, als Reinhard Heydrichs Sicherheitsdienst in Berlin mit gefälschten Schriftstücken 1936 versuchte, die Rote Armee von innen heraus zu schwächen und sich Männer wie Marschall Michail Tuchatschewski dafür auserkor. Der hat noch im Jahr ’30 die Konzeption des Vernichtungskrieges gegen den Westen entworfen, die den massenhaften Einsatz von Panzern und Flugzeugen sowie den massiven Einsatz von chemischen Kampfmitteln vorsah. Das Ziel des Angriffskriegs war, die kommunistische Herrschaft in Europa und der Welt mit Waffengewalt zu verbreiten. Kommunisten sind eben diskussionsfreudige Gesellen. Damals hat sich Stalin noch mit seiner Realpolitik friedlich durchgesetzt. So wirklich verziehen hatte er Tuchatschewski aber offensichtlich nicht. Noch im Januar ’36 wurde der prominente Marschall Michail Nikolajewitsch Tuchatschewski mit dem Außenminister Litvinov nach London geschickt. Am Rande der Trauerfeier für König George V. sollte er sich mit Vertretern des Generalstabes der Briten treffen und ihnen anbieten, gemeinsam mit Moskau in einem Präventivkrieg das Nazi-Regime zu beseitigen. Das konnte London verhindern, indem es den Leuten auf der Straße die Hucke vollgelogen hat, der Russe hätte die Stärke seines Militärs übertrieben. Heydrichs Mühe war nicht wirklich nötig. Lange bevor er mit Dokumenten nachhalf, die sein Sicherheitsdienst gefälscht und sie über Prag nach Moskau lanciert hatte, war Väterchen Frost selbst der Meinung, man müsse gewisse Diskussionen ein für allemal beenden und sorgte für Prozesse. Die Zahl der Opfer geht schon in die Millionen, darunter wenig erstaunlich viele Ausländer. 1938 ereilte der Tod für die Revolution auch Josef Eisenberger. Diese überzeugten Kommunisten wurden umgebracht, weil sie doch im trotzkistisch-sinowjewschen Block gewesen seien, Provokateure, Spione, Diversanten und was dem Genossen Stalin noch so eingefallen war.176