Wichtig für die Verteidigung Hollands ist vor allem Rotterdam. Weil die Panzertruppen nicht schnell genug hineinkommen, soll es bombardiert werden. Am 14. Mai wollen die Verteidiger Übergabeverhandlungen mit den Deutschen in die Wege leiten, doch die Nachricht erreicht deutsche Kommandostellen zu spät. Eine erste Bomberstaffel ist schon über dem Land der Tulpen. Leuchtzeichen am Boden werden wegen der heftigen Rauchentwicklung von den meisten Piloten nicht mehr wahrgenommen. Als einziger erkennt Oberstleutnant Otto Höhne die roten Leuchtzeichen der deutschen Fallschirmjäger, die signalisieren, dass die Niederländer kapituliert haben. Als Führer einer der zwei angreifenden Kolonnen des Kampfgeschwaders ordnet er an, dass seine Kolonne im letzten Moment abdreht. Die anderen fliegen allerdings weiter und es kommt um 13:27 Uhr zu einem Flächenbombardement auf die Stadt: Insgesamt sind hier 54 Heinkel He 111-Bomber beteiligt, die 97 Tonnen Sprengbomben abwerfen, 814 Zivilisten töten und 24.978 Wohnungen, 24 Kirchen, 2320 Geschäfte, 62 Schulen und 775 Lagerhallen zerstören. Drei Quadratkilometer der Stadt werden binnen weniger Minuten buchstäblich dem Erdboden gleich gemacht. Das ist auch das Ende für den Stadtkern aus dem Mittelalter. Einige der Bomben setzen Öltanks im Bereich des Hafens in Brand, wodurch sich Feuer wegen des starken Westwinds über die Stadt hinweg verteilt und zu noch größeren Zerstörungen beiträgt. Am Abend des 14. Mai wird endgültig eine Kapitulation unterschrieben, um weitere Bombardements zu verhindern.103

Wer auf die eine oder die andere Art bei der Aktion beteiligt war, hat ein Bild vom modernen Krieg und hat zwei Möglichkeiten: Man kann einen Erfolg einen Erfolg sein lassen („Das ist egal, Sieg ist Sieg!“) oder macht sich klar, dass es bei einer ungünstigen Entwicklung des Krieges solche Bilder bald auch aus unseren deutschen Städten geben kann. Humor ist bekanntlich, wenn man trotzdem lacht, und schlimme Zeiten wie unsere bringen auch entsprechende Witze hervor, Denksprüche, die keine Verbreitung fänden, wenn sie nicht ins Schwarze träfen. Ein Mitbürger, der zu den Nachdenklichen zählt, bringt diesen Spruch in die Runde: Hitler war stets musikempfänglich. Mit Händel fing es an, mit Liszt kam er zur Regierung, aus dem Volk kamen die Kreutzer zur Aufrüstung, dann kam das Schütz-Jahr, das mit Grieg endet – und nun ist es mit allem Hindemith. Siehe Endnote.104 Während der Erfinder dieses Spruchs den Blick darauf lenkt, dass es trotz aller Friedenslitanei am Ende doch zum Krieg gekommen war, sinniert ein anderer darüber, wie klein das alles einmal anfing: Gott hat eine Sintflut geschickt. Alles versinkt in unvorstellbaren Wassermassen. Hitler und Goebbels haben sich in einen Kahn gerettet und treiben auf den Fluten umher. Sagt Hitler: „Wo mag wohl Deutschland gelegen haben?“ Goebbels blickt in die Wasserwüste. Dann ruft er wie elektrisiert: „Dort, mein Führer, dort, wo die vielen leeren Sammelbüchsen schwimmen.“105 Ja, so harmlos hatte das begonnen, SA-Männer an jeder Straßenecke mit Sammelbüchsen. Doch nur ganz unbelehrbare Gegner des braunen Alltages können so reden. Wen das brutale Regime im Tausendjährigen Reich freundlicherweise unbehelligt lässt, der kann mit offenem Munde staunen über die Wunder, die der Knabe Adolf tut.

Mehr oder weniger zeitgleich wird die französische Armee matt gesetzt. Der gefürchtete Angstgegner deutscher Militärs fällt auf einen durchaus relativ aufwändig inszenierten Trick herein, den Goebbels’ Propaganda mit Erfolg begleitet. Es wird, teilweise sogar bloß mit Schildern auf den Wiesen, der Eindruck erweckt, der Großteil der deutschen Armee werde im Südwesten des Reiches gesammelt für einen (aussichtslosen) Sturm der uneinnehmbaren Maginot-Linie und den Marsch durch die Schweiz, wenn die auch neutral ist. Immerhin hat Goebbels verkündet, innerhalb von zweimal 24 Stunden werde es keine neutralen Staaten mehr geben auf dem Kontinent. Doch Hitler ist nicht bekloppt; ohne den Schweizer Franken muss er jetzt seinen Kampf beenden. Ohne eine Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel und ohne den Franken kann Herr Hitler keinen Krieg führen. Frankreich hat 144 Divisionen, Deutschland hat 141 Divisionen zur Hand. Nach allen Warnungen sollte man denken, Frankreich stünde mit aufgerichteten Ohren Gewehr bei Fuß. So ist dem jedoch keineswegs. 12 Prozent aller französischen Offiziere und Soldaten genießen im Moment ihren Urlaub. Es bleibt nur ein einsamer Held der Lüfte, der die Grande Nation vor dem Einfall der Barbaren noch retten kann. Ein Aufklärer ist auf einem Routineflug über den Waldgebieten in den Ardennen, wo sich Fuchs und Hase „Gute Nacht“ sagen und wo kein Mensch im Ernst mit irgendeinem Fahrzeug durch das Dickicht will. Am Nachmittag gegen drei glaubt er unter sich Panzer zu sehen. Das kann ja eigentlich nicht sein, aber er meldet das dem Hauptquartier von General Georges. Dieser Meldung wird natürlich kein Glauben geschenkt. So ist es möglich, dass feindliche Fahrzeuge unbehelligt vorwärts kommen bis tief nach Frankreich hinein.106 Das ist völlig unmöglich, meinen Männer, die es theoretisch wissen müssten. Im Norden Frankreichs sind mehrere hunderttausend Soldaten des Britischen Expeditionskorps; es ist jedoch wie verhext und die deutschen Erfolgsmeldungen reißen nicht ab.

Hitler behält recht. Wie bereits der Polenfeldzug oder die Besetzung von Dänemark und Norwegen endet sein Holland-Luftzug mit einem Erfolg. Der Botschafter Deutschlands übergibt nach der Kapitulation Vertretern der Regierung ein Memorandum, nach dem britische sowie französische Armeen mit der Einwilligung Belgiens und Hollands durch diese Länder zu marschieren planten, um die Ruhr anzugreifen. Es ist die gleiche Begründung für den Einmarsch, die auch die deutschen Soldaten erhalten haben, und man kann wenig dagegen sagen, denn das Expeditionskorps der Briten wurde nach dem Einfall der Wehrmacht in Polen im Norden von Frankreich stationiert, um auf dem Kontinent eingreifen zu können. Bei so einer Möglichkeit ist es dann allerdings geblieben. Die Briten sind schließlich nur als Begründung für die Westoffensive zu gebrauchen; für die Niederlande kämpfen sie zu spät, für den Eingriff zugunsten Frankreichs, Belgiens oder Luxemburgs fliehen sie zu früh. Wer die Kabinettsprotokolle in London liest, kann sich bloß wundern. England, dem nach dem Flottenabkommen mit Hitler viel mehr Schiffe zustehen als diesem und von dem es seit ’39 hieß, es sei gut gerüstet, soll jetzt auf einen Sieg der französischen oder belgischen Armee angewiesen sein, um sein Expeditionskorps auf dem Kontinent halten zu können. Wie lächerlich. In Bezug auf die Franzosen heißt es im Kriegskabinett: „It seemed from all the evidence available that we might have to face a situation in which the French were going to collapse, and that we must do our best to extricate the British Expeditionary Force from northern France.“ Erstrangig wäre es nun, die Sicherheit des Britischen Expeditionskorps zu gewährleisten, Schiffe zur Rückführung der Truppen zu schicken und Luftangriffen mit eigenen Flugzeugen vorzubeugen. Wären die Worte im Kriegskabinett in den Tagen ab dem 25. Mai ernstzunehmen, dann hätte sich die englische Elite mit ihrer jahrelangen Unterstützung für die Aufrüstung des Reichs und Hitlers expansive Politik irrsinnig verspekuliert. Während sich das Land des Rotweins und des Baguettes noch im Glauben wiegt, englische Truppen würden die französische Armee vom Norden her unterstützen, machen sich die Briten schon wieder auf den Weg nach Hause. Damit ist die Bluffparade dann auch schon beendet. Ermöglicht wird diese Flucht aus Dunkerque oder auch Dünkirchen und über den Ärmelkanal hinweg durch einen Haltebefehl Hitlers bei einem Besuch bei Rundstedt.107

Mag ja sein, dass es einem unbedarften Beobachter als „das Wunder von Dünkirchen“ verkauft werden kann, doch Wunder sind nicht an Befehle Vorgesetzter gebunden. Wahr ist, dass sich die Truppen der Franzosen, die den deutschen numerisch überlegen sind, vor allem im Süden Frankreichs gesammelt haben, um einen erwarteten Hauptschlag abzufangen, und die Engländer haben sich entgegen den Absprachen aus dem Staub gemacht. Dafür lautet der militärische Fachbegriff aber Verrat und nicht Wunder. So ist der Norden von Frankreich Hitlers Armee schutzlos ausgeliefert. Wer hier kurzfristige militärische Erwägungen als Begründung heranzieht, kalkuliert erstens nicht die langfristige britische Strategie in den Jahren seit 1904 ein und lässt zwei weitere Argumente unbeachtet. Man möchte meinen, das Wort vom Wunder von Dünkirchen würde von der Propaganda eines Joseph Goebbels in die Welt gesetzt. So ist es aber nicht. Dieser Ausdruck wird wenige Tage danach in England geprägt, da man diese Aktion den Briten als großartige Leistung darbieten will. Und darüber hinaus lässt die britische Armee der Wehrmacht freundlicherweise genug Ausrüstung übrig, um etwa acht bis zehn Divisionen auszurüsten. Mag sein, dass mancher Soldat geistesgegenwärtig seine Waffen unbrauchbar macht, doch alles in allem bleibt noch eine Menge an Zeug vor Ort. Hitlers Armee stehen auf einen Schlag riesige Munitionsvorräte, 880 Feldgeschütze, 310 Geschütze großen Kalibers, ungefähr 500 Flugabwehrgeschütze, etwa 850 Panzerabwehrkanonen, 11.000 Maschinengewehre, beinahe 700 Panzer, 20.000 Motorräder sowie 45.000 Kraftfahrzeuge und Lastkraftwagen zur Verfügung. Die Armeeausrüstung, die zu Hause verfügbar war, hat gerade ausgereicht, um zwei Divisionen mit den nötigen Utensilien auszustatten. Man kann gewiss davon ausgehen, dass die Führer in London dies wussten. Es ist sicher wahrscheinlicher, dass die guten Menschen einem vorher gefassten Plan gefolgt sind, denn gegen die Auslegung jenes Vorganges als Wunder spricht auch folgende Szene. Noch bevor Lord Gort die Strände verließ, bat Frankreichs Oberbefehlshaber Maxime Weygand General Sir Edward Spears um die Aufstellung einer britischen Armee auf französischem Boden, welche direkt vom Evakuierungspunkt in einen sichereren französischen Hafen hinter den Linien verschifft werden sollte. Spears lehnte dieses ab und erklärte ihm, dass er an der Grenze sei und fast nur noch eine Division habe und dass man keine Zeit habe, um die Truppe auf britischem Boden neu aufzustellen. Vielleicht wird man abwarten müssen, bis sich ein Historiker erbarmt und sich des mysteriösen Vorgangs einmal annimmt. Auf jeden Fall gibt es hier hinreichend viele Indizien dafür, dass London auch jetzt wieder mit gezinkten Karten spielt.108