Es ist freilich gemein, immer auf Kanzler und Kollegen herumzuhacken, die Rolle hingegen nicht auszuleuchten, die sein Außenamtschef in dem Theaterauftritt spielt. Genscher erzählt freimütig, dass es „in den Tagen zuvor“ Gerüchte gab, „der Kanzler wolle die Debatte nutzen, um eigene Vorstellungen zur deutschen Frage darzulegen“. Dann war es doch wohl die Aufgabe des Außenministers, zu solch einem Egomanen hinzugehen und ihn auf diese Gerüchte anzusprechen. Der Auftrag laut Grundgesetz, Deutschland, sobald das möglich ist, zu vereinigen, ist kein privates Vergnügen für einen einzelnen Schwergewichtler in der Kanzlersuite. Dann gehört in Hans-Dietrich Genschers Erinnerungen eine Szene hinein, in der er nach einem entsprechenden Gespräch wild fluchend das Arbeitszimmer des Kanzlers verlassen und beim lauten Schließen einer Tür die Klinke in der Hand gehabt hat, wie einst Bismarck bei Kaiser Wilhelm – zumal auch von einer Reaktion auf sein Auftreten in Prag die Rede sein soll. Und ich dachte, ganz Bonn sei stolz gewesen auf seinen nächtlichen Auftritt. Auch nicht. Auch gut. Jedes Detail macht es noch hässlicher.

Dass neben Herrn Bundeskanzler Helmut Kohl auch der Außenamtschef Hans-Dietrich Genscher lügt wie gedruckt, wird schnell klar: Er hat sich bereits am 6. September den Büroleiter der Bild-Zeitung in der Bundeshauptstadt Bonn am Rhein als Gast in seinen Garten eingeladen, um es in Ost und West laut zu machen, dass die Ungarn versuchen, die Grenze für DDR-Bürger in Richtung Westen zu öffnen. Zu dem Zeitpunkt hatte man noch hoffen können, dass es der DDR-Führung irgendwie gelingen könnte, das zu verhindern. Auch jetzt Ende November geht der Kanzler wieder über den Kanal Wolfgang Kenntemich. Dieser Zehn-Punkte-Plan wird über ihn durchgestochen, bevor Kohl ihn im Bundestag präsentiert. So ist Genscher rechtzeitig im Bild und weiß, worauf er zu reagieren hat. Was kann ein Experte hier beitragen? „Kenntemich war als Abgesandter von Bild in Bonn wichtig für Kohls und Genschers Bundesregierung: ein natürlicher Verbündeter im Angesicht tendenziell SPD-freundlicher Medien wie dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen, dem Spiegel, dem Stern, der Süddeutschen Zeitung oder der Frankfurter Rundschau, die die öffentlichen Debatten prägten.“ Also haben die Leitmedien schon immer die Zweistaatlichkeit propagiert. Bis 1969 war der Konsensjournalismus nämlich tendenziell CDU-freundlich. Nur, weil es so bekloppt klingt, soll Gunnar Hinck auch noch den Psalm aufsagen: „Im Herbst 1989 war die Stunde der Journalisten des Axel-Springer-Verlages gekommen, die von den Kollegen immer belächelt worden waren, weil sie sich mit missionarischem Ernst um deutsch-deutsche Themen kümmerten.“ Muss man den Auftrag des Grundgesetzes, sich um die Einheit Deutschlands zu bemühen also nicht allzu ernst nehmen? Warum ist es denn nun amüsant, wenn sich jemand um deutsch-deutsche Themen kümmert? Wurde das Grundgesetz geschrieben, um die Wähler hinters Licht zu führen? Es ist schon verräterisch ausgedrückt: weil sie sich mit missionarischem Ernst um deutsch-deutsche Themen kümmerten.

Und um diese zugleich zu diskreditieren, kümmern sie sich parallel dazu auch um Klatsch und Tratsch. Vielleicht doch noch ein bisschen aus der Feder von Gunnar Hinck? „In den achtziger Jahren war in der Bundesrepublik Innerdeutsches in die Defensive gedrängt, galt doch die Mauer in weiten Teilen der Bevölkerung inzwischen als Normalität und eigentlich ganz nützlich: Sie kapselte die Bundesrepublik von der lästigen und tristen ostdeutschen Realität ab. Sie schuf Biotope.“ Verstehen Sie, dass Ihr Weltbild manipuliert wurde? „In Zeiten vermeintlich ewig andauernder Blockkonfrontation und verlässlichen Wohlstands nahmen Themen wie Atomausstieg, Waldsterben, multikulturelle Gesellschaft und Dritte Welt in der Gesellschaft breiten Raum ein; Themen, die wohl nur unter den saturierten Bedingungen der achtziger Jahre der Bundesrepublik so gedeihen konnten.“ Hinck weist aber zutreffend darauf hin, dass sie bei Springer startklar sind: „Bis kurz vor der Wende erschien das Akronym DDR in den Zeitungen des Konzerns nur in Anführungszeichen.“ Völlig richtig, denn als der Rohbau der neuen Ständigen Vertretung der B.R.D. in der D.D.R. stand und die Arbeiter sich dem Innenausbau zuwandten, ließ ja dann selbst dieser „marginalisierte“ Axel-Springer-Konzern noch die Anführungsstriche bei unserer DDR weg.

So können wir an dieser Stelle festhalten, dass Hans-Dietrich Genscher ganz bewusst lügt. Wie hat es der gute alte Johann Wolfgang von Goethe seinerzeit so vortrefflich ausgedrückt? „Wahrheit sag ich euch, Wahrheit und immer Wahrheit, versteht sich: Meine Wahrheit; denn sonst ist mir auch keine bekannt.“ Der Bonner Außenminister Genscher weiß also vor dem Beginn der Rede des Kanzlers von dem giftigen Zehn-Punkte-Plan. Es erscheint dann auch mehr als nur unwahrscheinlich, dass er „unsere Haltung“ erst in der Mittagspause des 28. November 1989 mit Otto Graf Lambsdorff abgestimmt und schließlich formuliert habe. Da er Bescheid weiß, ist es schade, dass er den Kanzler nicht an seinem so reichhaltigen Erfahrungsschatz des kleinen, gelben Koalitionspartners teilhaben lässt, denn er hat richtig gute Gedanken zu bieten, die Kohls Initiative nicht zu einem Rohrkrepierer werden lassen müssten. Ihm ist vollkommen „klar, dass die außenpolitischen Reaktionen darauf Probleme in West und Ost aufwerfen würden, die man hätte vermeiden können“.