Auch Künstler haben Möglichkeiten, sich kritisch über die Zustände zu äußern. Der fünfunddreißigjährige Kabarettist Finck aus dem Städtchen Görlitz in Schlesien, der gerade vor zwei Jahren aus dem KZ Esterwegen entlassen worden war, hat das Gefühl, die Zuschauer seiner Programme seien ein bisschen wie eine verschworene Gemeinschaft, die meint: Da spricht endlich einer aus, was wir alle denken, aber wir können hier nur Flüsterwitze machen.55 Seine Auftritte sind einfach immer wieder genial. Nehmen Sie diesen Einstieg in sein Programm: Die Leute kommen von draußen, wo es jetzt im Februar schön weiß und kalt ist. Er kommt hoch auf die Bühne und begrüßt sein Publikum straff, doch stumm, mit dem Hitlergruß. Das Publikum lacht amüsiert. Fragt Finck: „Warum lachen sie denn?“ Erneut den Arm wie zum Gruß hebend, fährt er fort: „So hoch liegt der Schnee!“ Glanzvoll ist zum Beispiel auch die folgende Doppeldeutigkeit, gerichtet an die Gestapo-Spitzel im Saal: „Kommen Sie mit? Oder muss ich mitkommen?“ Irgendwann kommen nachdrückliche Verwarnungen von offizieller Seite, von ihm mit den Worten kommentiert: „Der Finck ist geschlagen, der Joseph ist da!“56 Weil die gelbe Karte von Goebbels gekommen war. Er hat ja vollkommen recht: Wer nie lacht, ist irgendwo nicht normal.57 Wer erst einmal den Kontrast zwischen seinem Eindruck von den Mitbürgern draußen auf der Straße und dann drinnen im Kabarett kennen gelernt hat, wird die Ruhe auf den Straßen letztlich nicht mehr als die reinste Zustimmung zu den Zuständen interpretieren. Aufschwung hin oder her – der Mangel ist allgegenwärtig und der Vier- Jahr-Plan ist nicht geeignet, die Probleme zu lösen. Den Leuten auf der Straße entgeht das nicht, wovon das nachfolgende Bilderrätsel Zeugnis gibt: „Auf einem Tisch liegen vier Äpfel, daneben steht ein brennendes Licht. Was bedeutet das?“ Die Antwort lautet so: „Vier Jahre werden wir veräppelt, aber dann geht uns ein Licht auf!“58 Man kann es andererseits auch noch deutlicher ausdrücken: Ein Mann läuft ohne seine Klamotten über den Alexanderplatz in Berlin. Zur Polizeiwache gebracht, wird er gefragt, warum er das gemacht habe. Darauf entgegnet der Mann: „Ich trainiere. In vier Jahren sind wir alle so weit!“59 Und wie wird es bei uns aussehen, wenn es noch lange mit den Vier-Jahr-Plänen so weitergeht? 1970 im Deutschen Reich: Der Lehrer fragt die Schüler, was „Butter“ sei. Keiner weiß es. Fritz fragt daheim seinen Vater. Der weiß es auch nicht. Man schaut im Konversationslexikon nach und findet: „Butter: Brotaufstrich der Systemzeit!“60 Also eines kann man an dieser Stelle festhalten: Früher war nicht alles schlecht.

Als ein Journalist den bekannten deutschen Künstler Werner Finck bei einem Aufenthalt in der Schweiz vor das Mikrophon bekommt, meint er, bei dieser Gelegenheit könnte er ein paar kritische Worte aus berufenem Mund mitschreiben und fragt ihn, was er von den jetzigen Zuständen in Deutschland halte. Finck hat nun zwei Möglichkeiten: Er kann zurück in das Lager Esterwegen – oder er bleibt im Ausland, wo freilich niemand mit seinen Reden etwas anfangen kann, und sagt: „Wissen Sie, Zustände sind da überhaupt nicht. Das Wort möchte ich mir verbitten. Der einzige Zuständige bei uns ist der Führer.“ Darauf erwidert der Journalist, der danach in der Schweiz bleiben wird: Aber er müsse doch zu der Butterknappheit und so Stellung nehmen, da stimme doch etwas nicht. Darauf entgegnet Finck: „Mit der Butterknappheit ist es gar nicht schlimm, die Leute stellen sich eben nur an.“ Mit der Verdrehung der Worte hatte er die Frage des Journalisten bejaht, ohne es unbedingt ausgesprochen zu haben. Dass seine Antwort der ironischen Schärfe nicht entbehrt, wird nach seiner Rückkehr schnell klar. Zurück im Reich wird er prompt auf seine Replik angesprochen, es sei ja überall darüber gelacht worden, was er da gesagt habe. Darauf meint er, diesmal zu einem sehr andersartigen Gesprächspartner: „Ja, aber hören Sie mal. Wenn mir hier das Wort im Mund umgedreht wird! Ich habe doch etwas Positives sagen wollen, es sei gar nicht so schlimm, und jetzt legt man mir das so aus!“61 Vielleicht muss man eine verstummte Gesellschaft tatsächlich selbst erlebt haben, um zu spüren, wie weit Finck die Nase herausgestreckt hat. Wenn er es übertreibt, fährt auch er wieder in den Kahn ein und bewegt dann so viel oder so wenig, wie ein Häftling in der Diktatur noch bewegt.