Für Clara ist es ein Herzensbedürfnis, zu stehen, wenn sie ihren Führer sieht. Sie steht, und wenn sie nicht wüsste, dass es leider nur Bilder von ihm sind, sie würde sogar zur Leinwand winken. Doch Margit steht nur auf, weil sie nicht auffallen will. Wie vielen geht es so wie ihr? Hier und da hört man den Spruch: Adolf Hitler kommt in Zivil in ein Kino. In der Wochenschau wird unser Führer gezeigt und das Horst-Wessel-Lied gespielt. Alles steht auf, nur Hitler bleibt sitzen. Da beugt sich ein Nachbar zu ihm und flüstert ihm zu: „Mensch, steh auf! Wir denken ja alle so wie du, aber das brauchen die Nazis ja nicht zu wissen!“474 Es sieht nicht gut aus mit offenen Worten. Hören Sie doch nur: Hitlers Frisör bemüht sich vergeblich, die Schmalztolle Adolfs schön nach hinten zu bürsten, doch sie fällt ihm jedes Mal wieder in einer Strähne nach vorn auf seine Stirn. „Mein Haar lässt sich eben nur schwer legen“, sagt Hitler. Darauf meint der Frisör: „Geben Sie nur Pressefreiheit, mein Führer, da sollen Sie mal sehen, wie Ihnen die Haare zu Berge stehen!“475 Es ist auf jeden Fall ein bemerkenswerter Satz, wenn der Komiker Werner Finck meint: An dem Punkt, wo der Spaß aufhört, beginnt der Humor. Im Februar ’37 wollen Journalisten von den Münchener Neuesten Nachrichten einfach einmal eine Faschingsausgabe ihrer Zeitung drucken lassen. Darin ist das leicht umgearbeitete Märchen vom Rotkäppchen wohl schon der beste Beitrag. Auf jeden Fall ist seine Satire bald auch in anderen Gegenden bekannt. Darin wird jedes nur mögliche Nazi-Wort eingebaut, das sich irgendwie einfügt. Voilà! „Es war einmal vor vielen, vielen Jahren in Deutschland ein Wald, den der Arbeitsdienst noch nicht gerodet hatte, und in diesem Wald lebte ein Wolf. An einem schönen Sonntag, es war gerade Erntedankfest, da ging ein kleines BDM-Mädel durch den Wald. Es hatte ein rotes Käppchen auf und wollte seine arische Großmutter besuchen, die in einem Mütterheim des NSV untergebracht war. In der Hand trug es ein Körbchen mit einer Pfundspende und einer Flasche Patenwein. Da begegnete ihm der böse Wolf. Er hatte ein braunes Fell, damit niemand gleich von Anbeginn seine rassefremden Absichten merken sollte. Rotkäppchen dachte auch nichts Böses, weil es ja wusste, dass alle Volksschädlinge im Konzentrationslager saßen, und glaubte, einen ganz gewöhnlichen bürgerlichen Hund vor sich zu haben. »Heil Rotkäppchen«, sagte der Wolf. »Wo gehst du hin?« Rotkäppchen antwortete: »Ich gehe zu meiner Oma ins Mütterheim.« – »So«, sagte der Wolf. »Aber dann bringe ihr doch ein paar Blumen, mit denen das Amt für Schönheit der Holzarbeit den Wald geschmückt hat!« Sogleich machte sich Rotkäppchen daran, ein Erntesträußchen zu pflücken. Der Wolf aber eilte zum Mütterheim, fraß die Großmutter auf, schlüpfte in ihre Kleider, steckte sich das Frauenschaftsabzeichen an und legte sich ins Bett. Dann kam auch Rotkäppchen schon zur Tür herein und fragte: »Nun, liebe Oma, wie geht es dir?« Der Wolf versuchte, die volksnahe Stimme der Oma nachzumachen, und antwortete ihr: »Gut, mein liebes Kind!« Rotkäppchen fragte: »Warum sprichst du heute so andersartig zu mir?« Der Wolf antwortete: »Die Rednerausbildung am Vormittag hat mich sehr beansprucht.« – »Aber Oma, was hast du für große Ohren?« – »Damit ich das Geflüster der Meckerer besser hören kann!« – »Was hast du denn für große Augen?« – »Damit ich die Wühlmäuschen besser sehen kann!« – »Was hast du denn für einen großen Mund?« – »Du weißt doch, dass ich in der Kulturgemeinde bin!« Und mit diesen Worten fraß er das arme Rotkäppchen, legte sich ins Bett und schlief in seiner verantwortungslosen Art sofort ein und schnarchte.
Draußen ging der Kreisjägermeister vorbei. Er hörte ihn und dachte: Wie kann eine arische Großmutter so rassefremd schnarchen? Und als er nachsah, da fand er den Wolf, und er schoss ihn, obwohl er keinen Jagdschein für Wölfe hatte, auf eigene Verantwortung hin tot. Dann schlitzte er ihm den Bauch auf und fand Großmutter und Kind noch lebend. War das eine Freude! Der Wolf wurde dem Reichsnährstand zugewiesen und zu Fleisch im eigenen Saft verarbeitet. Der Kreisjägermeister durfte an der Uniform einen goldgestickten Wolf tragen, Rotkäppchen wurde zur Unterführerin im BDM befördert, und die Großmutter durfte auf einem funkelnagelneuen KdF-Dampfer eine Erholungsreise nach Madeira machen.“476 Fraglos haben die Redakteure dann Ärger mit dem Staat bekommen, aber sagen Sie nicht, das hat sich vielleicht nicht gelohnt. Diese Zeitung hat mehr zum Grübeln geboten, als sonst so im Angebot ist. Irgendwann in diesen Jahren wird im Reich ein geflügeltes Wort geboren: zwischen den Zeilen lesen. Um die scharfe Zensur wissend, finden Journalisten neue Möglichkeiten, um ihre Kritik an das Publikum zu bringen. Bald ist zu hören: Die Frankfurter Zeitung wird enger gedruckt. Weshalb? Damit man nicht mehr so viel zwischen den Zeilen lesen kann.477