Der Plan des Geheimdienstchefs Canaris zur Entmachtung der Gestapo ist vorerst Makulatur. Er wird Amtsgruppenchef im Oberkommando der Wehrmacht. Sofort verkündet er seine neue Linie: „Unsere gemeinsame Arbeit erstreckt und erweitert sich also jetzt auch auf das innerpolitische Gebiet.“ Die Presse bekommt seine straffe Hand schnell zu spüren. Als sich ein Leitartikler des Völkischen Beobachters freut, mit dem Abgang Blombergs und Fritschs nehme „der Verschmelzungsprozess zwischen Wehrmacht und Partei … immer deutlichere organisatorische Formen“ an, lässt Canaris bei Reichspressechef Dietrich Protest einlegen, da der Artikel dem Zwei-Säulen-Charakter des Dritten Reiches widerspreche.27

Auf der einen Seite gebe es die Reichswehr, Verzeihung, die Wehrmacht, und auf der anderen die NSDAP, auch wenn Canaris sicher klar ist, dass es mit den zwei Säulen so eine Sache ist, nachdem sich Adolf Hitler auch zum Oberbefehlshaber der Wehrmacht erkoren hatte. Erich Kordt vom Auswärtigen Amt ist wütend über die Untätigkeit der Militärs, die nicht schon vor Jahren zumindest gegen die ihnen bekannt gewordenen Menschenrechtsverletzungen im Reich vorgegangen sind. Er erinnert daran, „dass es in den Jahren 1935-1938 in der zivilen Sphäre eine organisierte Opposition gegen Hitler in Deutschland nicht gab und auch nicht geben konnte. Wer gegen die geschriebenen oder ungeschriebenen Gesetze der nationalsozialistischen Partei verstieß, musste damit rechnen, dass seine wirtschaftliche Existenz vernichtet wurde, wenn er nicht gar in ein Konzentrationslager wanderte.“28 Die Angst vor einem wirtschaftlichen Aus, Schmerzen und Tod mit und ohne ein Urteil, verbunden mit dem Fehlen von freier Presse, verhindern solche oppositionellen Gruppenbildungen, falls man sich im Zusammenhang mit einer Diktatur überhaupt getraut, das Wort Opposition in den Mund zu nehmen. Kordt lässt es auch nicht ungesagt, dass selbst vom Ausland her die Organisation von Widerstand fast unmöglich ist. Umgekehrt wird den Gegnern eine Flucht ins sichere Ausland erschwert, eine Tatsache, die auch Juden betrifft, obwohl deren Auswanderung erwünscht ist, wenn man die Propaganda ernst nimmt. Kordt erwähnt als Hinderungsgründe nicht nur die Gestapo. Fast noch schwieriger sei die Barriere zu überwinden, die andere Staaten gegen die Einwanderung fremder Flüchtlinge errichtet haben.29 Deshalb hätte die Wehrmacht und somit die einzige unabhängige Institution mit den entsprechenden Mitteln in den Händen geradezu die Pflicht gehabt, etwas zu unternehmen, um dem üblen Treiben im Reich ein Ende zu bereiten. Wilhelm Canaris und weitere maßgebliche Personen aus dem deutschen Geheimdienst sind nicht willens aufzugeben. Die Macht, die die Gestapo hat, muss gebrochen werden. Canaris lässt den 50-jährigen Hans Oster, den Sohn eines sächsischen Pfarrers, seinen eigenen Geheimdienst für das Inland einrichten, um in der Bendlerstraße schnell zu erfahren, was im Dreieck Reichskanzlei-Karinhall-Gestapo ausgeheckt wird.30 Damit verlässt Canaris den Boden der Legalität und bewegt sich nunmehr auf hochverräterischem Terrain. Doch nicht er allein ist jetzt zum Äußersten bereit. Eine ganze Gruppe von Offizieren will das Geschehene benutzen, um Hitler von der Führung des Staates wegzuputschen. Sie sehen an der Lage in der Sowjetunion, wie weit es kommen kann, wenn eine einzige Partei die totale Macht auch über das Militär innehat.31 Von Fritsch will sich daran nicht beteiligen und sagt ganz schauerlich resigniert: „Dieser Mann ist Deutschlands Schicksal, und dieses Schicksal wird seinen Weg zu Ende gehen.“32 Der Kopf der deutschen Verschwörer ist, schon vom Amt in der Wehrmacht her, General Ludwig Beck. In den vergangenen Wochen war Hitler gerade mit ihm so hart aneinander geraten, dass der Führer erwog, ihm den Laufpass zu geben; doch bei Ludwig Beck findet er keinen geeigneten Grund für einen Rauswurf. Vielleicht wäre ja Adolf Hitler jetzt nicht derart vorsichtig, wüsste er, wie weit der Unmut in der Wehrmachtführung bereits gediehen ist. Beck seinerseits war sich völlig sicher, dass dem Reich keine Gefahr ins Haus stand, solange General-oberst Fritsch auf seinem Posten war. Nun ist der aber gestürzt und die Vorstellung von der ausschließlich defensiven Aufrüstung wird brüchig. Das malt sich die brave deutsche Hausfrau nicht im Traume aus, dass in Berlin keine monolithische Staatsführung am Werke ist. Doch Diktatur ist, wenn jeder so den Eindruck hat, die Mehrheit sei für alles und gegen überhaupt nichts. Das bewirkt umgekehrt, dass sich jeder Einzelne auch nicht rührt und bei anderen den gleichen Eindruck hervorruft.