Beunruhigend wirken im Deutschen Reiche auch die neuerdings wieder auftretenden Gerüchte von drohender Inflation, einer Abstempelung des Papiergeldes, von Vermögensabgaben und ähnlichen Maßnahmen. Ganz neu ist ein verschiedentlich gemeldetes Gerücht von der bevorstehenden Einführung einer Europa-Währung, durch die die Reichsmark erheblich abgewertet würde. Auch soziale Fragen bleiben auf der Tagesordnung. Eine misstrauische Voreingenommenheit, mit der Arbeiter teilweise auf die Einstellung der „oberen Zehntausend“ und der „besseren Damen“ zu der herrschenden Arbeitspflicht für jeden sehen, deutet nach Auffassung der Kollegen beim SD darauf hin, dass „klassenkämpferische Gedankengänge, wie sie der z. Zt. wieder stärker in Erscheinung tretende Gegner durch Flugblatt-, Schmier- und vor allem Mundpropaganda verbreite“, wieder aufgegriffen würden.81 Doch die Wühltätigkeit ist auch nicht nur auf das rote Arbeitsvolk beschränkt. So bemüht sich zum Beispiel neben anderen auch eine Gruppe von Deutschen verschiedenster Altersstufen, die Leute in München, wo sie an der Universität studieren, zum Kampf gegen das herrschende Regime und gegen den Krieg aufzustacheln. Vor allem stechen die zwei Geschwister Hans und Sophie Scholl heraus, die 24 und 21 Jahre jung sind, sowie deren Kommilitonen Christoph Probst, Willi Graf und Alexander Schmorell. Direkt beteiligt an den Aktivitäten ist auch der Universitätsprofessor Kurt Huber. Treibender Impuls ihrer Versuche, die Leute wachzurütteln, ist ihr christlicher Glaube. Hans war es wohl, der sich für ihre Gruppe den Namen Weiße Rose ausdachte, als sie im Sommer 1942 begannen. Mit der Zeit beteiligen sich andere Leute an ihrer Aufklärungsarbeit, unter ihnen Traute Lafrenz, Susanne Hirzel, Marie-Luise Jahn, Lilo Ramdohr, Hans Hirzel, Heinz Brenner, Franz J. Müller, Hans Conrad Leipelt, Eugen Grimminger, ein Falk Harnack und Jürgen Wittenstein. Auch Harald Dohrn klinkt sich ein, der Schwiegervater von Christoph Probst. Hier beteiligen sich der Architekt Manfred Eickemeyer, in dessen Atelier sich die Weiße Rose trifft, der Kunstmaler Wilhelm Geyer, der Eickemeyers Atelier mietet und der Hans Scholl den Schlüssel zu den Räumen überlässt, der Buchhändler Josef Söhngen, der seinen Keller als Versteck für die Flugblätter zur Verfügung stellt, sowie ein größeres Umfeld von Unterstützern, wie Heinrich Bollinger, Rudolf Alt, Helmut Bauer, Lilo Dreyfeldt, Werner Bergengrün, Josef Furtmeier, Hubert Furtwängler, Fritz Leist, Günter Ammon, Fred Thieler und viele andere mehr. Mehrere Mitglieder stammen aus der Bündischen Jugend, wie zum Beispiel aus dem Grauen Orden oder aus der „dj.1.11.“, die Abkürzung für Deutsche Jungenschaft vom 1. November 1929. In Aufrufen und Wandparolen fordern die jungen Leute zum Kampf gegen Hitler auf und knüpfen ihre Verbindungen zu gleichgesinnten Studenten in Berlin, Stuttgart, Hamburg und Wien. In der Nacht vom 15. auf den 16. Februar verteilen Mitglieder der Gruppe 800 bis 1200 Flugblätter in München. Den Text, der sich gegen den Krieg richtet, verfasste Kurt Huber. Jenem Professor geht es darum, sich an das Volk in der Breite zu wenden.82

Die Masse der Leute zu erreichen ist nach dem schlimmen Desaster an der Wolga allerdings auch nicht mehr so aufreibend und schwer, wie es vor ein oder zwei Jahren noch war. Inzwischen grapschen die Leute fast schon nach jedem Fetzen einer Information, der nicht mit dem Namen Goebbels unterzeichnet ist. Gerüchte werden weitergereicht, denn es ist schon oft genug bestätigt worden, was zuvor eben nur ein Gerücht war. Radiosender anderer Länder werden abgehört, ob illegal oder nicht, und es wird festgestellt, dass man „nicht mehr so prompt für die Entfernung von hetzerischen Schriften usw. Sorge trage oder Flugblätter nicht mehr sofort abgebe, sondern lese und zum Teil weitergebe.“83 Das können die drakonischen Strafen, die für jegliche nonkonforme Äußerung ausgelobt wurden, nach der Niederlage in Stalingrad auch nicht mehr verhindern. Der Luftangriff Mitte Februar trägt noch sein Teil dazu bei, die Leute im schönen München weichzuklopfen. Da scheppert es nämlich gehörig im Städtchen und als Folge der bisherigen Luftangriffe sind die Vorräte an Glas aufgebraucht. Der Sicherheitsdienst in der Reichshauptstadt kann nur notieren, dass „alle Bemühungen, sie zu ersetzen, bisher ohne Erfolg geblieben“ sind. „Von den zuständigen Stellen wird deutlich auf die Gefahren hingewiesen, wenn ein neuer Luftangriff erfolge.“ Neue Unbill ist zu erwarten, denn auch die Vorräte an Dachziegeln sind erschöpft.84

Im neuen Flugblatt wird ausgeführt: „Kommilitonen! Kommilitoninnen! Erschüttert steht unser Volk vor dem Untergang der Männer von Stalingrad. Dreihundertdreißigtausend deutsche Männer hat die geniale Strategie des Weltkriegsgefreiten sinn- und verantwortungslos in Tod und Verderben gehetzt. Führer, wir danken dir! Es gärt im deutschen Volk: Wollen wir weiter einem Dilettanten das Schicksal unserer Armeen anvertrauen? Wollen wir den niederen Machtinstinkten einer Parteiclique den Rest der deutschen Jugend opfern? Nimmermehr! Der Tag der Abrechnung ist gekommen, der Abrechnung der deutschen Jugend mit der verabscheuungswürdigsten Tyrannis, die unser Volk je erduldet hat. Im Namen der deutschen Jugend fordern wir vom Staat Adolf Hitlers die persönliche Freiheit, das kostbarste Gut des Deutschen zurück, um das er uns in der erbärmlichsten Weise betrogen. In einem Staat rücksichtsloser Knebelung jeder freien Meinungsäußerung sind wir aufgewachsen. HJ, SA, SS haben uns in den fruchtbarsten Bildungsjahren unseres Lebens zu uniformieren, zu revolutionieren, zu narkotisieren versucht.“ In dem Text wird auch der Rahmen benannt, in dem sie der Gehirnwäsche unterzogen werden: Sie nennt sich Weltanschauliche Schulung. Dies sei die Methode, die dazu diene, „das aufkeimende Selbstdenken in einem Nebel leerer Phrasen zu ersticken.“85 Wenn man den Text liest, erstaunt es nicht mehr, dass in den folgenden Wochen das Gerücht durch Bayern geistert, in München seien Studentendemonstrationen ausgebrochen.86 Dass dies glaubhaft ist und nicht als Unfug abgetan wird, ist ein weiteres Zeichen dafür, dass die Stimmung im Volk äußerst angespannt ist.