Bleiben wir hier in Berlin. Seit dem 27. Februar ’43 sammeln die SS und die Gestapo die letzten Juden ein, die noch offiziell in der Reichshauptstadt wohnen. Die Leute aus jenen „Mischehen“ kommen in das Haus in der Berliner Rosenstraße 2-4. Doch die ihnen nahestehenden Deutschen bleiben seitdem vor dem Gebäude stehen und fordern ihre Freilassung – sie machen dem deutschen Wort vom Stehvermögen hinreichend Ehre. Die Nazis müssen davon ausgehen, dass die Anwohner der Rosenstraße an den Fenstern hinter den Gardinen stehen und den Menschenauflauf vor der ehemaligen „Behörde für Wohlfahrtswesen und Jugendfürsorge“ der Jüdischen Gemeinde beobachten. Schon am 1. März werden es noch mehr Frauen und es sind auch einige Männer in der Menge. Letztlich ist ja nicht jeder Mann irgendwo draußen an einer der Fronten. Um einmal eine der Frauen aus dieser anonymen Menge herauszugreifen, soll Änne Ullstein genannt werden. Sie sollte sich unbedingt von ihrem Ehemann Heinz Ullstein* scheiden lassen. In letzter Minute nimmt Änne Ullstein die Scheidung zurück. Was da geschieht, ist sensationell, aber die Szene ist bedrückend. Manche gehen auf und ab. Autos mit Festgenommenen fahren vor. Sie fahren in den Hof hinein und man kann nicht sehen, was dort passiert. Aber ein Redakteur des SS-Blatts Das Schwarze Korps im Rang eines SS-Hauptsturmführers wird zu einem Augenzeugen in jenem Hof und beschwert sich (etwas naiv) bei einem Vorgesetzten über diesen Vorgang: „Ein Lastwagen stand im Innenhof, vor der Laderampe stand ein Hocker, und die Männer, Frauen und Kinder mussten im Laufschritt auf diesen Lastwagen, daneben stand ein Mann in Zivil mit einer langen Hundepeitsche und schlug brutal auf die Juden ein. Er traf einen Säugling. Ist das eines deutschen Mannes würdig?“ Was wird er sich denken, wozu Männer in der SS noch alles fähig sind? Unterdessen kommen auf der Straße draußen immer wieder neue Autos. Polizisten stehen herum oder gehen dort auf und ab. In der Nacht zum 2. März gehen über Berlin die britischen Bomben herunter und machen die Leute noch wütender. So sind an diesem Dienstag noch mehr Leute da. Nun könnte man sich denken, nichts ist leichter, als die Zusammenrottung, die nach gültigem Recht und Gesetz verboten ist, mit Waffengewalt aufzulösen. Doch eingedenk der Leute hinter den Fensterscheiben und der Menschenmassen auf der Straße sowie einer deutlichen Intervention des Vorsitzenden der Fuldaer Bischofskonferenz Kardinal Adolf Bertram zugunsten der in der Rosenstraße Eingesperrten knickt die Staatsmacht ein und fängt an, die Leute wieder freizulassen, wenige am Anfang, in der Hoffnung, dass sich die Menge so verkleinert. Doch es kommen in den nächsten Tagen mehr und mehr Menschen wieder frei, weil der Staats- und Parteiführung klar wird, dass man in aller Öffentlichkeit den Bogen nicht zu überspannen hat. Abwiegelnd hält Goebbels fest: „Gerade in diesem Augenblick hält der SD es für günstig, in der Judenevakuierung fortzufahren. Es haben sich da leider etwas unliebsame Szenen vor einem jüdischen Altersheim abgespielt, wo die Bevölkerung sich in größerer Menge ansammelte und zum Teil sogar für die Juden Partei ergriff. Ich gebe dem SD Auftrag, die Judenevakuierung nicht ausgerechnet in einer so kritischen Zeit fortzusetzen. Wir wollen uns das lieber noch einige Wochen aufsparen; dann können wir es umso gründlicher durchführen.“ Die Entlassenen haben sich beim Arbeitsamt zu melden und werden zu Zwangsarbeit verpflichtet. Vielen von ihnen wird letztlich Arbeit bei der „Reichsvereinigung der Juden“ und deren Einrichtungen zugewiesen. Am 3. März ist schon ein neuer Transport da und verschwindet im Innenhof. Frauen bringen den Gefangenen auch Essen mit, und findig wie Berliner sind, hat eine Frau ihrem kleinen Schmaus auch einen Zettel beigefügt, um zu sehen, ob er angekommen ist. Von der Tochter erfahren wir, was sich dann praktisch abspielt: „Manchmal wurden wir bei dem »Ordner« in Zivil, der vor der Tür des Hauses stand, ein Stullenpäckchen los. Ich habe meinen Vater hinter einem Fenster entdeckt, er hat mit dem Zettelchen gewinkt, das wir zu den Broten getan hatten. Sie waren also angekommen.“ Auf mehr als ein menschliches Entgegenkommen kann man auch nicht hoffen. Da hat eine der Frauen ganz Recht, die über andere Optionen für die Masse sagt: „Sollen wir hingehen und die SS zur Rede stellen? Ihre Lastwagen stürmen und unsere Freunde und Verwandten herunterreißen? Die SS hat Waffen – wir haben keine. Es gibt uns niemand welche. Und wenn man sie uns gäbe, wir verständen nicht, mit ihnen umzugehen. Wir sind keine »Umbringer«. Wir haben Ehrfurcht vor dem Leben. Das ist unsere Stärke und – unsere Schwäche.“125 Unterdessen sammeln sich vor jenem Gebäude in der Rosenstraße immer mehr Menschen.

Am Freitag, dem 5. März, ist die Straße dunkel wie ein See von Köpfen. Eine Schätzung besagt, dass dort tausend Leute sein müssen. Dramatik kommt am Sonnabend in die Szenerie. Der Strassenbahnverkehr im Gebiet der Rosenstraße wird umgeleitet. Die SS richtet Maschinengewehre auf die Menschenmenge. Leute rufen „Mörder!“ und hoffen wohl, damit Mörder von weiteren Morden abzuhalten, na ja. Die Maschinengewehre werden schließlich doch wieder abgezogen und an diesem 6. März lässt die Verbrecherbande im Rang von Staatsangestellten die festgehaltenen Juden in der Rosenstraße frei. Unterdessen waren freilich 25 Inhaftierte schon nach Auschwitz abtransportiert worden – und müssen nur zwölf Tage später nach Berlin zurückgeholt werden, wo sie in das „Arbeitserziehungslager Großbeeren“ kommen. Ein Wort zu denjenigen, die man nicht in der Rosenstraße findet: Es gibt keine Gegendemonstration, die sich für die Deportation der Inhaftierten einsetzen würde, obwohl keiner die Maschinengewehre gegen einen derartigen Auflauf einsetzen würde. Apropos Auschwitz. Es gibt die Gerüchte darüber, dass Juden in Lagern östlich des Reiches umgebracht werden. Das zeigt alleine die Sammlung aufgeschnappter Sprüche bei Kurt Hirche schon eindrucksvoll. Doch wo geschieht dies und wie lässt sich das verhindern, was dort passiert? Man muss in diesem Zusammenhang klar unterscheiden zwischen denen, die an den Verbrechen in dieser oder jener Weise beteiligt sind, und denen, die es aus der Gerüchteküche haben, dass dies wahrscheinlich geschieht. In den deutschen Zeitungen wird nichts darüber berichtet. Man weiß ja noch nicht einmal, was das bedeutet, wenn da steht, dass es irgendwo in Westdeutschland wieder einen Bombenangriff gab. Gut, in diesem Falle wird wenigstens in den Medien angedeutet, dass es tatsächlich passiert. Zu Details jedoch schweigt man sich aus und bleibt bei euphemistischen Umschreibungen.126 Woher sollen Leute, die noch keinen Bombenangriff im richtigen Leben oder vielleicht irgendwo auf einer Fotografie gesehen haben, eine Vorstellung davon haben?

So etwas hatte es noch nie gegeben und ohne Bilder kein Bild. So geht es ja übrigens nicht nur Ihnen. So geht es vielen Leuten in Stadt und Land. Keine Vorstellung. Aber wer in Westdeutschland lebt, führt wahrhaft ein Bombenleben. Aus den schwer heimgesuchten Städten wird bereits seit Wochen vom Wunsch berichtet, dass die zentralen Medien endlich eine realistische Darstellung von den Zuständen nach den Bombenangriffen vermitteln sollen, so dass Evakuierte in nicht betroffenen Regionen auf Verständnis stoßen. Aber wer hat eine Idee davon, wie es nach Angriffen weitergeht? Die öffentlichen Verkehrsmittel fallen aus und man läuft auf den ehemaligen Straßen über Schutthalden und durch Staubwolken zur Arbeitsstätte. Man kann sich nicht richtig waschen und nicht zu Hause kochen, weil Wasser, Gas und Strom fehlen. Auf einmal ist ein geretteter Löffel oder Teller von unschätzbarem Wert. Man muss eine Vorstellung davon haben, welche Schwierigkeiten unter diesen Umständen der Kauf von Lebensmitteln bereitet, wenn einfach die meisten Geschäfte zerstört sind oder von sich aus geschlossen haben, wenn unvermittelt Zeitzünder oder scheinbare Blindgänger explodieren. Da werden einsturzgefährdete Gebäudeteile gesprengt und Mauern, an denen man vorbeiläuft, stürzen plötzlich von selbst ein. Da ist es noch harmlos, dass Post zu spät ausgeliefert wird, keine Zeitungen mehr erscheinen und dass man die Durchsagen über den Rundfunk nicht mehr hören kann. Im übrigen Reich hat man davon keine Ahnung. Dort steht in der Zeitung, der Kölner Dom sei beschädigt und das Aachener Münster habe einen ganz unwesentlichen „Kratzer“ abbekommen. In solcherlei Propaganda sieht die Bevölkerung der betroffenen Städte eine reine Bagatellisierung der schweren Schäden in Wohnvierteln, vor allem aber auch der Menschenopfer. Vielfach ist zu hören, an solchen Momenten könne man die Wahrhaftigkeit des Wehrmachtberichtes überprüfen.127 Im Angesicht des Grauens während sowie nach den Bombenangriffen stellt man sich die Frage: „Was ist Feigheit?“ und gibt darauf selbst die Antwort: „Wenn man sich von Köln aus an die Front meldet.“128

Die 37-jährige Berlinerin Helene Jacobs, die seit Jahren dabei hilft, Verfolgte zu verstecken, weiß auch nicht besser als andere Leute, wohin die Juden verschickt werden, die die Aufforderung erhalten, sich an einem bestimmten Ort in der Stadt einzufinden. Viele Leute aus ihrem Umfeld haben wie sie die Vorstellung, dass sie die angekündigten Deportationen irgendwohin führen, wo sie weiterleben oder vegetieren können, bis die Naziherrschaft vorüber sein wird. So kommt es, dass die Gemeindemitglieder ihres Kirchensprengels die Juden christlichen Bekenntnisses mit einem gemeinsamen Abendmahl verabschieden. Sie erlebt mit, dass das Ritual eine Frau sogar vor der Verhaftung bewahrt. Ein Beamter von der Gestapo klingelt an der Türe, als sie gerade das Abendmahl bei der Frau zu Hause halten. Vor dem heiligen Abendmahl hat er dann eben doch zu viel Respekt und zieht unverrichteter Dinge wieder von dannen. Wenige Tage nach jener überraschenden Reaktion entschließt sich die Frau zum Abtauchen bei Freunden und wenn alles gut geht, so lebt sie noch länger als der Führer der Verbrecher.129

Helene Jacobs erlebt eine gewisse Bereitschaft zum Helfen durchaus bei nicht wenigen ihrer Mitbürger. Die Schwierigkeit sieht sie immer wieder darin, wie man sich gegenseitig verständigt, wo man im Prinzip keinem Menschen ohne Risiko über den Weg trauen kann. Eines Tages klingelt es an ihrer Tür. Draußen steht ein Ehepaar, das sie um eine Unterkunft bittet und sich auf Pfarrer Kurz beruft, der sie ihnen empfohlen hat. Sie hat davon jedoch von ihrem Pfarrer noch nichts gehört und ihr ist völlig klar, dass das Spitzel sein können, die austesten, wer bereit ist, Verfolgte zu verstecken. Dazu kommt, dass sie mit einem falschen Wort auch jene beiden Leute gefährden würde, die sie zur Zeit schon in ihrer Wohnung beherbergt. Kurzentschlossen schickt sie das Ehepaar weg. Es dauert in diesem Fall jedoch nicht unendlich lange, bis sich die Sache aufklärt. Die zwei Leute kommen schließlich bei Freunden von Frau Jacobs unter und sie kann dem Ehepaar dort erklären, warum sie es abgewiesen hat.130