Wir schreiben den 27. September 1938, und am späten Nachmittag, Hunderttausende sind auf dem Weg von ihren Arbeitsstätten nach Hause, will es der Führer wissen. Es soll ein historischer Tag für Hitlers Reich werden. Die 2. motorisierte Division soll auf dem Weg von Stettin zur tschechoslowakischen Grenze Berlin durchqueren und über die von Albert Speer konzipierte Ost-West-Achse der Stadt durch die Wilhelmstraße fahren, unmittelbar vorbei an der Reichskanzlei. William L. Shirer aus Chicago, 34, schreibt ins Tagebuch: „Ich ging an die Ecke Wilhelmstraße-Unter den Linden, in der Erwartung, riesige Menschenmengen zu sehen und Szenen zu erleben, wie man sie mir vom Kriegsausbruch 1914 geschildert hatte, mit Jubelgeschrei und Blumen und küssenden Mädchen… Aber heute verschwanden die Menschen rasch in der Untergrundbahn, und die paar, die stehen blieben, bewahrten tiefes Schweigen … Es war die auffallendste Kundgebung gegen den Krieg, die ich je erlebte.“483

Vor dem Balkon von Hitlers Reichskanzlei sieht jener US-amerikanische Korrespondent kaum 200 Menschen. Und dort sind zweifellos treue und hoffende Anhänger von Hitler versammelt. Gegner des Regimes werden sich in diesem Moment kaum dorthin stellen – außer zum Sturm. Hitler macht eine finstere Miene, wird sichtlich ärgerlich und er verschwindet bald nach drinnen, ohne den Vorbeimarsch der Truppe abzunehmen.484
Da hat Hitler seine Antwort des deutschen Volkes. Hinter dem Vorhang stiert er entgeistert auf die apathische Bevölkerung. Der kleine Goebbels ist der erste, der ihm im Weg steht und der bekommt den Zorn auch ab: „Mit einem solchen Volke kann ich keinen Krieg führen.“485 Schön, dass wir darüber endlich einmal gesprochen haben. Der Propagandaexperte kuscht und bekennt den völlig offensichtlichen Handlungsbedarf: „Nein, mein Führer, ich habe mich unten selber überzeugt, dieses Volk bedarf noch einer intensiven Aufklärung.“486 Bei so viel Ablehnung muss er sich aber wenigstens eine größere Aktion einfallen lassen.

Hans Rothfels, 47, bestätigt, dass die Kriegsbereitschaft in Deutschland hart gegen den Wert null konvergiert. Hitlers Demonstration der Stärke werde mit eisigem Schweigen beantwortet.487 Hans Bernd Gisevius freut sich diebisch. Etwas Besseres können sich die Kritiker nicht wünschen, denn so schlecht sind Soldaten in Berlin noch nie behandelt worden wie an diesem Nachmittag. In den Arbeitervierteln sind geballte Fäuste auf den Straßen zu sehen. Die nationalsozialistische Volksgemeinschaft war immer ein Wunschtraum und diese Geste macht klar, dass die Leute den traditionellen Gruß der Arbeiter nicht vergessen haben. Jetzt, wo sie alle wütend sind, trauen sie sich wieder, die Fäuste zu ballen. In den Straßen in der Stadtmitte wenden sich die Bürger von den Soldaten ab.488