Die Bürgerbewegung Demokratie Jetzt veröffentlicht am 12. September ihren Gründungsaufruf. Man kann durchaus sagen, dass in diesen Tagen von Wiedervereinigung im öffentlichen Diskurs in der DDR noch keine Rede ist. Die Bürgerrechtler streben eine radikale Demokratisierung der DDR an und fordern das innere Selbstbestimmungsrecht der Menschen. Die Hoffnungen richten sich jetzt verstärkt auf Gorbatschows Reformen, auf glasnost und perestroika. Glasnost ist ein russisches Wort und heißt so viel wie Offenheit und Transparenz in der Politik. Perestroika ist das Wort für Umbau und bezieht sich auf den Umbau der sowjetischen Gesellschaft hin zur Einhaltung der Menschenrechte und zu mehr Lebensstandard. Es ist menschlich nicht besonders schön zu beobachten, dass viele Wohlstandskinder verächtlich auf Leute herabblicken, die ebenfalls mit ihrer Hände Arbeit ein schönes Leben aufbauen wollen. Suchen Sie den Fehler. Historisch betrachtet ist es interessant, dass nur die Sowjets und die Amerikaner in Richtung einer Vereinigung der Bundesrepublik und der DDR drängeln. Unterstützt wird dieser Reformwillen bei uns in der sowjetischen Parteizeitung Prawda. Am 15. September wird ein ungewöhnlich groß aufgemachter, überlanger Artikel mit Porträtfoto über drei Spalten über Markus Wolf veröffentlicht, was als eindeutige Parteinahme zu verstehen ist. Doch Honecker lässt sich nicht einfach ersetzen. Der Antrag der DDR-Oppositionsgruppe Neues Forum auf Zulassung als Vereinigung wird am 19. September abgelehnt, was man eigentlich bloß als die blanke Hilflosigkeit der Herrschenden verstehen kann. Mit einem Pulk aufgebrachter Menschen kann man nicht wirklich sachlich gut und zielorientiert diskutieren. Da ist es schon besser, wenn sich eine Gruppe einmal zusammensetzt und ihre Ziele klärt. Dann können sich Vertreter der Staatsmacht mit Vertretern dieser Gruppe über Wege aus der Krise unterhalten. Wohin soll die Wirklichkeitsverweigerung denn führen? Es gibt allerdings auch mutige Denker bei der Staatssicherheit, die durchgeführte Veranstaltungen mit Vertretern des Neuen Forums unter dem Dach der Kirchen als einen gewissen Erfolg einschätzen. In Leipzig sind während der Montagsdemonstration am 25. September rund 5000 auf den Beinen. Sie demonstrieren für Reformen und gegen das Verbot des Neuen Forums. Wes Geistes Kind sicher viele Stasi-Leute sind, zeigt sich in der Formulierung: „Negativ-feindliche Handlungen und geplante Veranstaltungen des »Neuen Forums«, welche durch intensive Maßnahmen unserer Partei beeinflusst wurden.“ Alles in allem zählen die Freunde in der Staatssicherheit im September 1989 etwa 150 sogenannte Personenzusammenschlüsse, also organisierte Gruppen in der DDR, die für Alternativen zum existierenden System eintreten.

Faszinierend ist eine auffällige Parallele zum Niedergang des Deutschen Reiches während des Krieges. Damals hat der Sicherheitsdienst auch in Berlin gemeldet, dass viele Menschen die Heuchelei satt haben und die ständige Desinformation. Die Leute, vor allem in der führenden Partei, der SED, wollen endlich ehrlich über die Lage informiert werden! Dabei gibt es zwei parallele Welten, die feinsäuberlich getrennt bleiben. In der Partei wird an verschiedenen Orten schon seit mehreren Monaten über das gemeinsame Papier von SPD und SED aus dem Jahr 1987 diskutiert. Im Protokoll für die Kreisleitung der SED wird natürlich etwas anderes berichtet. In den kritischen Gruppen innerhalb der Partei hat man nicht mehr und nicht weniger Angst als in der Welt außerhalb der Partei. Die Gruppen haben sich trotz allem in und zwischen den verschiedenen Betrieben verständigt. Die andere Welt spielt sich in den Kirchen ab und in oppositionellen Gruppen außerhalb der Kirchen. Wer davon ausgeht, die SED sei statutengemäß ein Kampfbund von Gleichgesinnten, der kennt die Wirklichkeit nicht, sagt ein Genosse. Das „Gleichgesinnte“ wird nach seinen Worten über die Parteikontrollkommission und über Kriminalisierung und Aussonderung von Andersdenkenden innerhalb der Partei, abseits jeder Öffentlichkeit herbeigeführt. Deshalb gehen im Herbst ’89 auch so viele SED-Mitglieder zu den Demonstrationen, auch wenn man von den kirchlichen Gruppen im Prinzip so gut wie nichts weiß, oder so wenig, wie sie draußen über die SED wissen. Auch die Genossen gehen auf die Straßen des Landes, weil sie sich sagen: Dieser Zustand ist nicht mehr zu ertragen. Das ist eigentlich das Grundgefühl, das sehr viele Genossen dazu bringt, etwas zu riskieren, was sie zuvor niemals riskierten. Lassen wir Thomas Theise (27) noch den Glorienschein der Amtskirche hinterfragen. Dass die Kirche der Raum für die Opposition geworden ist, „fiel ihr in den Schoß wie der Jungfrau das Kind“. Die Kirchen kümmern sich um alles in der Welt, aber nicht um die Leute vor Ort, meint er.