An diesem 25. August werden zwei Unterschriften unter einen Bündnisvertrag zwischen London und Warschau gesetzt. Botschafter Raczyński setzt seine Unterschrift unter eine Verpflichtung, die nicht stärker hätte formuliert werden können, die jedoch zwei Schwachstellen aufweist. Da ist zuerst die polnische Flotte, die es höchstens auf dem Papier gibt, und da ist zweitens die Weltmacht Großbritannien, die sich um Polen schert wie um Birma, Schwarzafrika oder Weihai. Indien ist viel bekannter geworden, doch dort geht es nicht menschlicher zu als im Rest dieser Welt. Es ist wahr: Die Artikel des Vertrages sind Muster diplomatischer Klarheit. Im Artikel 1 steht: „Sollte eine der vertragschließenden Parteien in Feindseligkeiten mit einer europäischen Macht infolge einer Aggression letzterer verwickelt werden, wird die andere vertragschließende Partei der in die Feindseligkeiten verwickelten Vertragspartei sofort jede Hilfe und Unterstützung gewähren, die in ihrer Macht steht.“ Das ist bei den Polen bescheiden und die Gralshüter der englischen Außenpolitik lägen lieber tot im Straßengraben als ihren langjährigen Gespielen Hitler vom Ostlandfeldzug abzuhalten. Man braucht gar nicht fürchterlich lange zu suchen, um einen Beleg dafür zu finden, dass die Polen für London bloß Spielfiguren auf dem europäischen Schachbrett sind. So erklärt Norton, der Geschäftsträger in Warschau: „Die Polen glauben, dass sie wirklich unsere Verbündeten sind, und wir werden das Beste aus ihnen herausholen, wenn wir sie behandeln, als ob wir auch davon überzeugt wären.“ Und die Polen sind doch selbst schuld; warum wohnen sie auch dort, wo sie wohnen, zwischen Russland und Deutschland? Der Vertrag, den man heute abschließt, ist ein Traum: Nicht nur eine Aggression würde ihn in Kraft treten lassen. Artikel 2 sagt, dass der Vertrag für „jede Aktion einer europäischen Macht gilt, die offenkundig, direkt oder indirekt, die Unabhängigkeit einer der vertragschließenden Parteien bedroht.“ Doch mit der Klarheit ist es auch schnell wieder vorbei, denn nicht nur Hitler und Stalin vereinbaren neben dem offiziellen Text ihres Vertrages auch noch geheime Extraklauseln; auch Warschau und London tun dies. Gott weiß, ob sich die polnischen Unterhändler besonders klug vorkommen, weil in dem geheimen Text steht: „Der in Artikel 2 vorgesehene Fall ist der der Freien Stadt Danzig.“ Natürlich steht Danzig nicht unter der Verwaltung Warschaus, sondern des Völkerbunds, aber Halifax und der Botschafter Henderson halten ihr Hitlerchen in Berlin zugleich im Glauben, dass sie fänden, er könnte Danzig berechtigterweise wieder zurückfordern, auch, indem die Freie Stadt im veröffentlichten Text des englisch-polnischen Abkommens nicht erwähnt wird. Selber schuld, wenn er selbst geheime Absprachen trifft und solche bei anderen nicht einkalkuliert. Der Außenminister Polens seinerseits kann es tollkühn ablehnen, mit Deutschland über Danzig zu sprechen, da er den geheimen Vertrag in der Tasche hat. Auch selber schuld, wenn er den Erhalt des Status der Freien Stadt nicht im offiziellen Text garantieren lässt. Wie will er damit jetzt diplomatisch operieren? Er kann es ja nicht erwähnen. Bedenklich ist, dass die Polen auch dann noch nicht in die Luft gehen und den Vertrag wegen Irrtums über den Inhalt anfechten, als Außenminister Halifax ein paar Minuten nach dem Abschluss zu Botschafter Raczyński sagt, er begreife ja schon, „wie wesentlich für Polen die Lage in Danzig sei“, teile nun jedoch nicht die Sichtweise, dass die polnische Regierung richtig oder klug handelte, wenn sie eine Gelegenheit zu Unterredungen über Danzig zurückwiese, wann immer sie sich ergeben sollte. Er sagt noch, dass er der Auffassung sei, die polnische Regierung mache „einen großen Fehler, wenn sie eine Haltung einzunehmen suchte, die Diskussionen über friedliche Status-Änderungen Danzigs ausschließen würde“. Der polnische Botschafter ist bestürzt und antwortet, dass „es viel für sich hätte“, in Diskussionen mit Deutschland „eine unbeugsame Haltung einzunehmen“. Warschau habe auf deutscher Seite kein Anzeichen irgendeiner Kompromissbereitschaft gefunden. Er ist so geplättet, dass er andererseits nicht fragt, wozu man denn dann die Freie Stadt überhaupt in den Vertrag reingenommen hat. Minister Halifax widerspricht. Verglichen mit dem Vorjahr, erläutert er, habe England an Stärke sehr zugenommen. Genau. Immer wie es gerade in die jeweilige Argumentation hineinpasst. Auf einmal befindet er, die Schwierigkeit, Unterredungen aus Schwäche führen zu müssen, sei zum Glück in großem Maße gewichen. So ähnlich wird es wohl sein. England, die Weltmacht, das die Kapazität hat, sich selbst und parallel dazu noch den Erzrivalen Deutschland aufzurüsten, führte Unterredungen aus dem bedauernswerten Zustand der Schwäche. Und da kommt der ultimative Hammer für alle, die trotz allem glauben wollen, dass das Appeasement den Frieden hier in Europa erhalten soll: Nur wenige Stunden nach dem Versprechen, „einander ausführlich und rasch von jeder Entwicklung zu verständigen, die ihre Unabhängigkeit gefährden könnte, und insbesondere jeder Entwicklung, die geeignet wäre, die besagte Verpflichtung in Kraft treten zu lassen“, beginnt die britische Regierung, in der Danziger Frage eine neue Politik einzuleiten, von der die Polen natürlich nicht in Kenntnis gesetzt werden. Halifax lässt Hitler mitteilen, dass England zu Verhandlungen über den zukünftigen Status Danzigs bereit sei. Es geht nicht mehr darum, die Polen zu bitten, die Initiative zu ergreifen. Hitler soll wieder einmal gebeten werden, seine Forderungen klar und deutlich zu formulieren. Wenn er sich damit einverstanden erklärte, würden die Engländer auf Polen Druck ausüben, sodass die deutschen Bedingungen angenommen würden. Das Szenario für den Crash ist so vorgezeichnet. Berlin wird über Danzig verhandeln wollen (mit der Rückendeckung aus London) und Warschau wird dies nicht wollen (mit der Rückendeckung aus London), die Lage wird eskalieren, das Hitlerchen hat seinen Anlass zum Losschlagen und das Wirtschaftswunderland an der Elbe unter der Kuratel des Volksschulabgängers aus dem Wald in Österreich wird sich mit der nächsten Alleinschuld herumzuschlagen haben.336 Menschen mit der Gnade der späten Geburt werden ihre Freude an Historikern haben, von denen sich ein Teil auf den einen Fakt stürzen kann und ein anderer Teil auf den anderen.