71 Jahre hat der Londoner Premier Chamberlain schon auf dem Buckel. Was meinen Sie? Ist das der rechte Zeitpunkt, um jener Kriegserklärung im September des letzten Jahres endlich Taten folgen zu lassen? Das ist eine Option. Oder sollte er diese gute Möglichkeit beim Schopfe packen und seinen wohlverdienten Ruhestand antreten? Dann kann er das Feld Winston Churchill überlassen, der von militärischen Dingen doch ohnehin mehr Ahnung hat und der seinerzeit auch schon den ersten Teil des millionenfachen Abschlachtens der Kontinentaleuropäer fachgerecht geleitet hat. In London fällt die Entscheidung zugunsten eines öffentlichkeitswirksamen showdowns für den alten Mann zum mehr oder weniger glaubwürdigen Verkauf eines Politikwechsels. Leopold Amery, einer der insider aus Milners Kindergarten fordert Premierminister Chamberlain am 10. Mai vor dem Unterhaus auf: „In Gottes Namen, gehen Sie!“ Was der erfolgreiche Premier überraschenderweise auch prompt tut.98 Wenn jemand jedoch einwendet, er habe nicht verhindert, dass Österreich, die Tschechoslowakei, Polen, Dänemark, Norwegen sowie die Niederlande unter deutsche Vorherrschaft gerieten, der muss jetzt bloß abwarten, ob sein Nachfolger Belgien und Frankreich vor einem solchen Schicksal bewahrt, und ob er von den Medien als erfolgreicher Macher gefeiert wird, auch wenn ihm dies nicht gelingt, und wenn das rohstoffarme Reich des Führers Krieg führen kann, obwohl es ohne britische und amerikanische Unterstützung weiterhin nicht dazu in der Lage wäre.

Niemand muss sich die Übergabe des Staffelstabes von Chamberlain an Churchill ernsthaft dramatisch vorstellen. Der Präsident des Geheimen Staatsrats und Vorsitzender der essentiellen innenpolitischen Kabinettsausschüsse bleibt Chamberlain. 21 der 34 Minister des neuen Kabinettes waren auch schon in der Ex-Regierung, Mister Churchill eingeschlossen. Der alte Mann macht nur Platz, damit ein um einige Jahre jüngerer das Steuerruder übernehmen kann. Außerdem gab Winston Churchill eben schon 1914 den Startschuss für den Weltkrieg und hat die einschlägigen militärischen Erfahrungen. Vermeintliche Vertreter des Appeasements dürfen genauso bleiben wie falsche Freunde der Nationalsozialisten. Sie sollen Hitler weiter die Möglichkeit eines späteren Bündnisses gegen die Russen vorgaukeln, das Reich zum Angriff auf die Sowjetunion verleiten und Amerika in den Krieg hineinziehen, wie es Churchill schon im Weltkrieg von 1914 bis 1918 mit seiner Lusitania-Nummer gelungen war. Die Papiere, die darauf Rückschlüsse zulassen, wird man in hundert Jahren wohl noch nicht zur öffentlichen Einsichtnahme freigeben. Churchill ist nun an der Spitze einer Regierung der Nationalen Koalition unter Einschluss der Labour Party und der Liberalen. Er selbst übernimmt neben dem Amt des Premiers auch jenes des Kriegsministers wie 1919. Als der neue Premier sein Amt angetreten hat, gibt er erst einmal bezüglich der lästigen Vermittlungsbemühungen von Seiten des Vatikans dem Außenminister die Linie an: „Ich hoffe, es wird dem Nuntius klargemacht, dass wir keine Sondierungen über die Bedingungen eines Friedens mit Hitler wünschen und dass alle unsere Agenten strikte Anweisung haben, nicht mehr auf diesbezügliche Vorschläge zu reagieren.“99

So ziemlich die allererste Amtshandlung des frisch gebackenen Premiers wird als Kriegsverbrechen in die Geschichte eingehen. In der Nacht zum 11. Mai ziehen achtzehn englische Whitley-Bomber über den Westen von Deutschland hinweg und bombardieren Zivilisten in Städten. Bis zu dem Zeitpunkt sind stets nur militärische Ziele oder Städte im Belagerungszustand bombardiert worden. Na ja, unter Chamberlain war auch schon verhindert worden, dass Rüstungsbetriebe in Deutschland bombardiert wurden. Dafür warfen britische Flieger Eierhandgranaten auf erntende Bäuerinnen und Bauern. Jetzt wäre es sinnvoll, deutsche Flugplätze anzugreifen, so dass unsere Luftwaffe keine Städte westlich der deutschen Grenze bombardieren kann. Bisher sind die deutschen Truppen ja noch unter sich. Wenn sie weiter in den Westen vordringen, können sie dann nicht mehr so einfach von der Royal Air Force mit Bomben von oben angegriffen werden, ohne eigene Soldaten in Mitleidenschaft zu ziehen. Im Vorfeld hatten sie in London natürlich die Weichen längst gestellt. Ende April weigerten sie sich schon, ihre gute Luftwaffe außerhalb der Inseln zu stationieren. Der Pariser Generalstabschef Gamelin war ja nicht einmal in der Lage, jene Entscheidung übelzunehmen; über die Sitzung des Obersten Rates am 28. April ’40 bekannte er: „Wir dachten an die Front in Frankreich, sie an ihr Land.“ Nach dem letzten Kriege hieß es jedoch in London immer, sie hätten sich verpflichtet, die Ostgrenze Frankreichs zu schützen. Dort wird jetzt alles gebraucht, was vorhanden ist, weil die Bündnispartner Englands sonst aus der Wertung fallen. Wenigstens der General Weygand kritisiert am 19. Mai den Einsatz der britischen Luftwaffe, weil diese Bomber über Hamburg geschickt werden, während sie über den Feldern Flanderns tatsächlich gebraucht würden.100

Natürlich können wir auch eine Sitzung des Kriegskabinetts am 27. Mai abwarten, bis dann argumentiert wird, im bunten Schlachtengetümmel am Boden seien die Bomber nicht mehr einsetzbar. Nein, aber jetzt wäre der rechte Moment dafür. Weil es sich der Führer nach wie vor nicht mit den Engländern verderben will, bemüht er sich wiederholt, so eine Vereinbarung zu treffen, Zivilisten und nichtmilitärische Ziele gerade nicht zu bombardieren, stößt jedoch jedesmal auf eine steinerne britische Ablehnung. Das macht Hitler übrigens nicht hübscher als er ist, das macht die verantwortlichen Verbrecher in England nur hässlicher als sie gerne wären. Was für ein albernes Weltbild mit Bösen und Guten. Die Vielfalt der im echten Leben denkbaren Varianten reicht bis zu Verbrecher und Verbrecher. Führende britische Behörden geben offenherzig zu, dass die Briten eher als die Nazis dafür verantwortlich sind, dass mit Bombenangriffen auf Zivilisten und nichtmilitärische Ziele begonnen wurde. Diese Entscheidung war bereits 1936 vom britischen Luftfahrtministerium getroffen worden. Bei Rückfragen in dieser Hinsicht wenden Sie sich bitte vertrauensvoll an Luftmarschall Sir Arthur Harris (geb. 1892), James M. Spaight vom Londoner Luftfahrtministeriums (geb. 1877) sowie an den Militärhistoriker Sir Basil Henry Liddell Hart (geb. 1895).101

Die Deutschen wären aber nicht die Deutschen, wenn ihnen in der Lage der Humor abhanden käme: Es gibt drei Gruppen von Luftschutzkeller-Besuchern. Die erste Gruppe grüßt mit „Guten Tag“. Diese Gruppe hatte noch nicht geschlafen, wenn sie in den Keller kommt. Die zweite Gruppe grüßt mit „Guten Morgen“. Sie hat geschlafen, ehe der Alarm kam. Bloß die dritte Gruppe grüßt mit „Heil Hitler!“ Die schläft noch immer.102 Wer wird denn um Gottes willen auf die Idee verfallen, dass Verlautbarungen des Radios oder der Presse die öffentliche Meinung im Deutschen Reich exemplarisch abbilden? Müsste man nicht vielmehr tiefer schürfen, um gültige Aussagen auch über verstummte Teile der Gesellschaft im Reich zu treffen? Es ist sowohl ausgeschlossen, dass es keine Kritik an Hitlers Führung in Deutschland gibt, als auch, dass man die selbstverständlich vorhandene Kritik in den Medien serviert bekommt. Hier würden weder abenteuerliche Sicherheitsbehörden noch die staatliche Zensur benötigt, wenn ein großer Anteil der Leute in dem Lande der Dichter und Denker von sich aus von Adolf Hitlers braunem Regime und von einem weiteren Krieg nach dem Totalzusammenbruch nach 1918 begeistert wäre.

Verkauft werden soll die Whitley-Bomber-Aktion als Einschüchterungsversuch für die Insassen von Hitlers Diktatur nach dem Überfall auf die Niederlande am 10. Mai, aber warum geht das vor Ort extra stationierte Britische Expeditionskorps jetzt nicht los und fährt unserer Wehrmacht in die Parade? Ist Angriff nicht immer noch die allerbeste Verteidigung? Will man abwarten, bis der nächste Blitzkrieg zum Erfolg geworden ist?